66, 67, 68 - Die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“, Teil 2 a
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - 1967 lernten wir Chinesisch, zumindest jene Begriffe, die in dem kleinen roten Büchlein mit den „Worten des Vorsitzenden Mao“ häufig benutzt wurden.
„Ko-ming“ heißt wörtlich „den Auftrag ändern“ und meint damit „Revolution“. So hat es uns, den undogmatischen Linken, damals der Sinologe Joachim Schickel beigebracht. Seine Abhandlung „Dialektik in China“, die im mittlerweile legendären „Kursbuch 9“ im Juni 1967 erschien, zählte seinerzeit zu den meistgelesenen Essays, die sich mit der so genannten Kulturrevolution beschäftigten. Das galt auch für die linke Szene im eher bodenständigen Ruhrgebiet, wo man noch am ehesten von einer Revolutionierung der Massen träumen konnte.
Am Anfang des neuen Jahres 1967 galt ich bereits als ein gut vernetzter Aktivist in Dortmunds unabhängigem linkem Milieu. Bei der Auftaktkundgebung zu den Ostermärschen, die von der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ organisiert wurden und Mitte Februar im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen stattfand, vertrat ich offiziell die Dortmunder Gruppe des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“. Vor der Kundgebung traf man sich in mehreren Arbeitsgruppen und diskutierte mit prominenten Vertretern des wissenschaftlichen Sozialismus über die Situation in der Bundesrepublik. Ich hatte mich zu der Runde gesellt, die mit Johannes Agnoli (1925 - 2003) über dessen Thesen zum bürgerlichen Staat diskutierte. Agnoli galt als marxistischer Anarchist. Das Buch „Die Transformation der Demokratie“, das er gemeinsam mit Peter Brückner verfasst hatte, stand kurz vor seinem Erscheinen und er zitierte Auszüge aus dem Manuskript. Später, von 1972 bis 1990, war er Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. In seiner Jugendzeit stand er dem italienischen Faschismus nahe, was er gegenüber Vertrauten immer einräumte und von dem er sich glaubhaft distanzierte. Der 68er-Bewegung galt er als einer ihrer Vordenker.
Bei der anschließenden Versammlung im großen Festsaal traten Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Stütz, Hanns Ernst Jäger, Hanns Dieter Hüsch und Perry Friedman auf. Als für den Abschlusschor noch einige unterstützende Männerstimmen benötigt wurden, meldete ich mich. Es wurde mein erster Bühnenauftritt und ich sang aus voller Kehle und mit fester Überzeugung „Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache geht“ und „Ja, das ist Dreck und der muss weg, sowas wollen wir nicht haben. Leute denkt um, seid nicht so dumm, denn sonst fressen euch die Raben“. Zum Schluss sangen die ca. 800 Teilnehmer den amerikanischen Protestsong „We shall not be moved“. Anschließend gab es noch einen Fackel-Umzug durch die Gelsenkirchener Innenstadt. Für mich zählt dieser Tag zu jenen Passageriten, die ein Linker absolvieren sollte.
Noch sehr gut erinnere ich mich an die Jahreshauptversammlung des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer“ Ende April 1967 in Wuppertal. Konrad Adenauer war wenige Tage vorher gestorben und wir diskutierten über sein politisches Erbe. Trotz oder wegen der Großen Koalition sah aber niemand irgendwelche Anzeichen für eine Liberalisierung. Willy Brandt, Außenminister und Vizekanzler unter Kurt Georg Kiesinger, erschien uns lediglich als Alibi-Figur. Er sollte das Vertrauen der westlichen Bündnispartner in die Bundesrepublik stärken und den ideologischen Gegner im Osten beruhigen. Unterhalb der Oberfläche würde der klerikale CDU-Staat eine Umwertung der noch nicht einmal 20 Jahre alten Demokratie weiter betreiben. Die Verabschiedung der Notstandsgesetzte war spätestens für das Frühjahr 1968 vorgesehen.
Der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover, der viele Kriegsdienstverweigerer vor Gericht vertreten und ihnen dort ihr Recht erstritten hatte, wies während der Tagung auf eine politische Justiz in der Bundesrepublik hin, die in Teilen ähnliche Tendenzen aufwiese wie jene am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Hannover-Drück hatte er darüber ein Buch geschrieben: „Politische Justiz 1918 - 1933“, erschienen im S. Fischer Verlag (Fischer - Bücherei) 1966.
Bei dieser Versammlung in Wuppertal lernte ich auch Hans A. Nikel kennen, Mitherausgeber der satirischen Zeitschrift „Pardon“. Ihm war es bereits Mitte der 50er Jahre gelungen, prominente Befürworter für die Sache der Kriegsdienstverweigerer zu gewinnen, beispielsweise Martin Niemöller, Johannes Rau (SPD, davor Gesamtdeutsche Volks-Partei), die Musiker Albert und Emil Mangelsdorff und den Musikmanager Fritz Rau. Die Verbandszeitschrift „Zivil“ wurde vom Verlag Bärmeier & Nikel in Frankfurt gedruckt.
Zeitweilig war auch Diether Posser (1922 - 2010) anwesend, der 1952 zusammen mit Gustav Heinemann und Johannes Rau die Gesamtdeutsche Volkspartei gegründet hatte. Nach deren Scheitern wurden er, Heinemann und Rau Mitglieder der SPD. Ebenso wie Heinrich Hannover setzte er sich als Jurist für die Sache der Kriegsdienstverweigerer ein und vertrat viele Antragsteller erfolgreich vor Gericht. Später hatte er in den von der SPD geführten NRW-Landesregierungen mehrere Ministerämter inne.
Fortsetzung folgt
Foto:
Ostermarsch 1967 von Bochum nach Dortmund. © Günter Kretlow †
Info:
Im dritten Teil seines politisch-biografischen Essays erzählt Klaus Philipp Mertens von den sich überschlagenden Ereignissen im Jahr 1968: Prager Frühling, Attentate auf Martin Luther King, Rudi Dutschke und Robert Kennedy, Gründung von SDAJ und DKP sowie dem Einmarsch des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei.
Bisherige Folge
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