Wie sich aus einer Brautschau politisches Kapital schlagen ließe
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Jamaica-Sondierungen brachten es an den Tag: Besonders die Profillosen fürchten, ihr nicht vorhandenes Gesicht zu verlieren.
Man denke an Christian Lindner, den Vorsitzenden einer Partei, die für nichts außer dem institutionalisierten Egoismus steht. Oder an Horst Seehofer, derzeit noch Chef der bayerischen Stammtische, die sich in der CSU organisieren. Aber auch die plötzlich umworbene SPD hat ein Problem damit, in der Wirklichkeit anzukommen. Was nichts anderes bedeutet, als dass sie die Ursachen ihrer Niederlage glaubhaft aufarbeiten muss, um den Wählern neues Vertrauen in die alte Partei einzuflößen.
Die aktuelle parlamentarische Konstellation eröffnet Chancen, die sich nur selten bieten. Nämlich solche zu einer konstruktiven Interessenpolitik. CDU und CSU könnten sich jeweils schärfer voneinander abgrenzen und dadurch deutlich machen, wo bei ihnen die Linien zwischen konservativem Bürgerverständnis, Wirtschaftslobbyismus und Stammtischmentalität verlaufen.
Die SPD als zweitstärkste Partei könnte die guten Vorsätze, die sie nach dem Wahldesaster artikulierte, durch qualitative Veränderungen umsetzen. Konkret, indem sie sämtliche Führungspositionen sowohl intern als auch im Rahmen einer wie immer gearteten Regierungsbeteiligung mit Persönlichkeiten besetzte, die in der vorangegangenen Großen Koalition eigenständige Haltung bewiesen haben. Was vier Jahre Auszeit bedeutete für Andrea Nahles, Hubertus Heil, Johannes Kars und Thomas Oppermann. Hingegen eine zweite Chance für Barbara Hendricks, Katarina Barley und Heiko Maas, vielleicht auch für Sigmar Gabriel und Martin Schulz.
In einer solchen Konstellation könnte eine Koalition mit CDU/CSU mehr sein als die Fortsetzung einer Politik der Verdrängung all dessen, was bei objektiver Perspektive dringend geboten ist: Eine Verkehrsstruktur, in der das Auto nicht mehr zentrales Mobilitätsmittel sein wird, die konsequente Abkehr von fossilen Energieträgern, die Besteuerung von Luxus, Spekulation und Verschwendung, die Einführung einer Bürgerversicherung, die Absicherung der gesetzlichen Rente, Vorfahrt für allgemeine Bildung, eine offene, aber kritische Umsetzung der Digitalisierung und nicht zuletzt die Befreiung der Europäischen Union aus dem Würgegriff von Wirtschaftslobbyisten und Nationalisten.
Doch auch ein Stabilitätspakt der SPD mit CDU/CSU zur Bildung einer Minderheitsregierung unter Kanzlerin Angela Merkel, wie von der NRW-SPD vorgeschlagen, könnte von solchen Vorgaben und Vorhaben getragen sein.
Auch die Grünen besäßen dann wieder die Möglichkeit, sich bei jedem einzelnen Gesetzesvorhaben im Sinn ihrer Grundsätze zu profilieren, ebenso die Linke. Selbst die FDP bräuchte nicht länger ihre wirklichen, nämlich egoistischen Absichten schamhaft verbergen und die AfD erhielte fortlaufend Gelegenheit, ihren alten Hass auf alles, was sie nicht versteht, zu zelebrieren und sich dadurch vor allen Augen unmöglich und überflüssig zu machen.
Gefragt sind ein starkes Demokratieverständnis sowie ein gehöriger Schuss freiheitlich-bürgerlicher Verwegenheit. Dieses Gemisch sollte nur die ewig Gestrigen schrecken.
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Neuauflage der GroKo unter anderen Voraussetzungen?
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