Der Prozess gegen eine Gießener Ärztin wirft Fragen auf
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Teile der hessischen Justiz setzen sich regelmäßig dem Vorwurf aus, nach wie vor dem Rechtsverständnis von Obrigkeits- und NS-Staat verpflichtet zu sein.
Der Rechtsstreit um die Internet-Seite einer Ärztin, die dort im Rahmen ihrer medizinischen Dienstleistungen auch auf die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen hinweist, offenbart das erneut.
Der Fall illustriert in bezeichnender Weise den Konflikt zwischen § 219 Strafgesetzbuch (Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage) und § 219a (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft). Während die Binneninformation unter Ärzten und Krankenhäusern über Einrichtungen und Personen, die Abtreibungen legal durchführen dürfen, erlaubt ist, wird den Betroffenen, nämlich den Frauen, das Recht auf informelle Selbstbestimmung abgesprochen. Damit verstößt der § 219a eindeutig gegen Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“).
Der von Staatsanwaltschaft und Richterin vorgebrachte Hinweis auf Werbung im Sinn der Erlangung eines Vermögensvorteils trifft auf nahezu jede Information zu. Allein schon das Schild an einer Arztpraxis, das auf die Zulassung durch Krankenkassen verweist, ist de facto kommerzielle Werbung.
Die Strafvorschriften gegen Schwangerschaftsabbrüche sind in der Frühphase der NS-Gewaltherrschaft entstanden und verneinen jegliche Humanität. Es ging ausschließlich um die Züchtung des Nachwuchses (Frauen sind vor allem Gebärmaschinen, Männer vorrangig Soldaten). Reaktionäre Christen spendeten damals wie heute Beifall. Die Abtreibungsgegner, welche die Staatsanwaltschaften kontinuierlich mit Strafanträgen überhäufen, dümpeln erkennbar im schwarz-braunen Morast.
Die Willkür, mit der in Rechtsgrundsätze eingegriffen wird, zeigt sich auch an einem Vorfall im Mai dieses Jahres. Ein in Limburg an der Lahn ansässiger Unternehmer hatte auf seiner Internetseite zum „kleinen Holocaust“ gegen „Schwarze Blocks“ und andere aufgerufen, die am Rand des G20-Gipfels in Hamburg randaliert hatten. Der zuständige Oberstaatsanwalt sah darin keinen Aufruf zur Volksverhetzung und lehnte die Verfolgung entsprechender Strafanzeigen ab.
Fazit: Wer zum organisierten Massenmord aufruft, darf sich nach Meinung der Limburger Staatsanwaltschaft hinter der Meinungsfreiheit von Artikel 5 Grundgesetz verschanzen, obwohl § 130 StGB die Verharmlosung und Leugnung des Holocausts sowie das entsprechende NS-Vokabular unter Strafe stellt.
Zu alldem passt der Fall des hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters Temme, der zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat (dem neunten Opfer der NSU-Bande) zwar am Tatort war, aber rein gar nichts gesehen haben will.
Es scheint so, als befände sich der Rechtsstaat in Hessen in großer Gefahr.
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Demonstration vor dem Gießener Amtsgericht
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