Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist im ersten Halbjahr 2017 zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder gestiegen, und zwar auf 681. Es vergeht also kein Tag, an dem nicht mindestens drei solcher Straftaten begangen werden. Und das zur selben Zeit, da erstmals aus den Reihen einer Bundestagspartei ungeniert nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit gerufen wird.
Ist dieses Land wirklich reif für eine Führungsrolle in der Welt? Was verbirgt sich hinter dem schönen Schein wirtschaftlicher Erfolge?
Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Bremen, Elvira Noa, sagte im Gespräch mit der Tageszeitung „Weser-Kurier“ vom 2. Dezember: „Auf den Schulhöfen ist ‚Jude’ längst zum Schimpfwort geworden. Kinder werden angefeindet, beschimpft und kommen weinend nach Hause. Die Eltern sind besorgt. Manche Lehrer lassen aus Angst vor Diskussionen das Judentum im Religionsunterricht einfach aus.“ Auf die Frage, ob Antisemitismus in Deutschland wieder hoffähig geworden sei, antwortete sie: „Auf jeden Fall. Viele haben keine Scheu mehr, die deutsche Vergangenheit ganz offen als Last abzutun.“
Haben die politisch Verantwortlichen mit ihrem notorisch guten Gewissen in Sachen Vergangenheitsbewältigung etwas nicht mitbekommen? Oder wie sonst soll man sich ihr Schweigen zu den alarmierenden Zahlen erklären? Anscheinend haben sie sich damit abgefunden, dass ein Fünftel der Deutschen anfällig ist für rassistische Ideen und nationalistischen Größenwahn? Was Elvira Noa über die Zustände an Schulen berichtet ist nicht neu, sie beschreibt einen Dauerzustand. 1988 machten in Berlin Meldungen über zunehmenden Antisemitismus an den Schulen die Runde. Der Vorsitzende der Berliner Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, warnte in einer Sondersitzung des Schulausschusses im Abgeordnetenhaus eindringlich davor, die antijüdischen und ausländerfeindlichen Vorkommnisse weiterhin zu vertuschen. Geändert hat sich nichts.
Bereits 1982 hatten Wissenschaftler der Freien Universität in einem Bericht über die Verhältnisse an den Schulen Westberlins festgestellt, dass rechtsextremistische Schmierereien und antisemitische Redensarten fast überall an der Tagesordnung seien. Als eine der Ursachen nannten sie mangelndes antifaschistisches Bewusstsein. Sie beklagten, dass die Behörden die Untersuchung der Missstände nur wenig unterstützt und teilweise sogar behindert hätten. Die Schulbehörde appellierte an die Lehrer, nicht wegzusehen, wenn sie solche Vorfälle beobachteten, und die verantwortlicher Politiker zeigten sich wieder einmal äußerst beunruhigt.
Und heute? Was antifaschistisches Bewusstsein heißt, wissen nicht einmal alle Erwachsenen, geschweige denn die Kinder. Berliner Zustände herrschten auch anderswo. Die Landesschülervertretung von Nordrhein-Westfalen wusste 1989 zu berichten, dass an 60 Prozent der Schulen des Landes rechtsradikales Informationsmaterial verteilt werde. Vielerorts gebe es ausländerfeindliche Schmierereien und tätliche Angriffe auf ausländische Schüler. Wieder meldete sich Heinz Galinski zu Wort und beanstandete, dass nirgendwo entsprechende Maßnahmen gegen das rechtsextremistische Treiben unternommen würden. Dabei kämen rechtsextremistische Jungwähler mittlerweile auch aus „gut situierten Familien“.
Bei einer Meinungserhebung bejahte 1992 nur jeder Dritte die Frage, ob das deutsche Volk eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden habe. 42 Prozent verneinten sie. Bei einer anderen Umfrage sprachen sich 1994 mehr als die Hälfte der befragten Deutschen dafür aus, einen Schlussstrich unter die Nazivergangenheit zu ziehen. Als im Januar 1979 die vierteilige amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ , wo es um das fiktive Schicksal der Berliner Familie Weiss geht, Furore machte und erstmals in der bundesdeutschen Gesellschaft eine breite Diskussion über die nationalsozialisitsche Vernichtungspolitik, ein Mordprogramm, stattfand, erklärte der CSU-Vorsitzende Strauß, es werde „mit propagandistischen Mitteln eine Hysterie gegen einen angeblichen Rechtsradikalismus betrieben, der jedoch an Umfang und Heftigkeit mit dem Linksradikalismus überhaupt nicht zu vergleichen sei“.
Schnee von gestern? Von wegen. Kurz nach Bekanntwerden der neuen Zahlen über die Zunahme rechtsextremistischer antisemitischer Straftaten in Deutschland wurde die Öffentlichkeit mit Meldungen über polizeiliche Durchsuchungen im linksextremistischen Milieu zugeschüttet. Gab es einen aktuellen Anlass? Nein, es war angebliche Nacharbeit zur Aufklärung der Zusammenstöße während des G-20-Gipfels in Hamburg.
Foto: © haolam.de