Deniz Yücels souveränes Buch zur einjährigen Gefangenschaft als NAUTILUS FLUGSCHRIFT, Teil 2/2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Er ist am 10. September 1973 geboren, heute also 44 Jahre. Meine Güte, als er geboren wurde, war die Hochzeit der Hessischen Rahmenrichtlinien und des tausendfachen Elternprotestes, ja, der der begüterten Eltern, die sich gegen die SPD-Schulpolitik richteten.
Eine Schulpolitik, die Schluß machen wollte, mit der sehr typischen deutschen Eigenschaft der fast vollständigen Rekrutierung des Akademikernachwuchses aus der eigenen oberen Mittel- und Oberschicht, also seitens der SPD mit der deutlich politischen Absicht, auch Arbeiterkindern und da eben auch, wie man damals noch sagte, Gastarbeiterkindern eine höhere Bildung zu ermöglichen. Gesamtschule nannte man die Schulform, in der in demokratischer Weise alle Schüler nach ihren Möglichkeiten gefördert werden sollten, während ja kaum einem auffällt, daß unser dreigliedriges Schulsystem noch immer die Schulstruktur des Ständestaates ist, wo ja damals auch die Eisenbahn noch drei Klassen hatte, die Letzten eben auf Holzbänken saßen. Die Deutsche Bahn mit heute zwei Klassen ist also fortschrittlicher als die deutsche Schule. Das nur als Anregung für Deniz Yücel, von dem ich mir wünsche, daß er zum antiquierten deutschen Schulsystem mal deutlich etwas sagt, so richtig vom Leder zieht, aber wir formulieren es eben auch als Dankeschön an seine Lehrer und seine hessischen Schulen. Jawohl.
Die Texte sind inhaltlich gegliedert in ‚Texte über Journalismus‘, womit das Buch beginnt, das man dann gleich weiterlesen will. Aber sinnvoller ist, nach ein paar Artikeln Pause zu machen und beispielsweise ‚Texte über Deutsche und Ausländer‘ gesondert zu lesen. Für mich am interessantesten war ‚Ein irres Land‘, wo über die Türkei gesprochen wird. Aber man muß keine Konkurrenz errichten, auch an ‚Über Dieses und Jenes‘ habe ich meine Freude gehabt und bei ‚Texte aus der Haft‘, der geradezu verwegen ‚Korrespondent müßte man jetzt sein‘ überschrieben ist, geht es ans Eingemachte und auch dem Gefühl von Versagen, daß man nicht mehr machen kann, als gegen die einjährige Festnahme eines deutschen Journalisten in der Türkei zu protestieren.
Man hat viele Aha-Erlebnisse. Beispielsweise wenn Yücel schreibt, daß die AKP beim Amtsantritt 2002 versprochen hatte, die damals insbesondere gegenüber Kurden übliche Praxis systematischer Folterung zu beenden, was ihr in großem Maße gelungen sei. Aber: „Die alte Justiz, einschließlich der Militärjustiz der Putschjahre, duldete Folter, weil sie Geständnisse, also Beweise wollte. Die Justiz von heute verzichtet auf Folter, weil sie auf Beweise verzichtet.“(S.210) Nein, wundern muß man sich nicht, daß schwache Herrscher starke Journalisten einsperren. Aber weiterhin alles tun, um die türkische Justiz, die keine eigenständige gesellschaftliche Kraft (ach ja, Gewaltenteilung gehört ja zu den Inkunabeln einer Demokratie) ist, sondern politisch willfährig, über die Politik zu zwingen, Deniz Yücel frei zu lassen.
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Info:
Deniz Yücel, Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte,hrsg. Von Doris Akrap, Nautilus Flugschrift, Edition Nautilus, 14. Februar 2018