Bildschirmfoto 2018 03 16 um 12.47.09Schwindelerregender Wahlslalom ins Nichts

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Wurde zu Beginn der Woche mit Neuwahlen in Israel bereits im Juni gerechnet, so scheinen die Wogen fürs Erste vorerst wieder geglättet. Premierminister Binyamin Netanyahu sei «sein eigener Star, Regisseur» und Produzent seiner eigenen Schau. Sinngemäss so übertitelte eine israelische Zeitung in der Berichtswoche ihren Kommentar zur damals noch grassierenden Jerusalemer Koalitionskrise, die Anfang der Woche bereits in ihre nächste Phase gerutscht zu sein scheint: In die Auflösung der Knesset und die Ausschreibung von vorgezogenen Parlamentswahlen noch vor Ende Juni – bis sich am Dienstag alles wieder änderte.

Ein Vertrauensverlust

Je verbissener die Diskussionen um vorgezogene Wahlen in Premier Binyamin Netanyahus Koalition am Dienstag geführt wurden, umso klarer wurde, dass alle Beteiligten einander an der Nase herumführten. Machte in den Morgenstunden alles den Anschein, dass noch gleichentags das offizielle Signal zur Auflösung der Knesset gegeben würde, so erwies sich das einmal mehr als verfrühte Hoffnung beziehungsweise unbegründete Angst. Ausschlaggebend dürfte die Einsicht des Regierungschefs gewesen sein, keine Mehrheit in der Knesset für deren Auflösung und die Ausrufung von Neuwahlen schon im Juni mobilisieren zu können.

Eine Schlüsselrolle spielte wahrscheinlich Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und dessen Warnung, seine gesamte Koalitionspartei aus dem Bündnis zu führen, sollte Netanyahu beim ultrareligiösen Rekrutierungsgesetz einen faulen Kompromiss mit den Charedim schliessen oder Ministerin Sofa Landwer wegen ihrer Ablehnung dieses Gesetzes aus der Regierung feuern. Es gab aber auch Leute, die nicht ausschlossen, dass der Zwist zwischen Premier- und Verteidigungsminister effektiv gezinkt war und die beiden alten Füchse hinter den Kulissen alles gemeinsam planten und in die Tat umsetzten. Eine zentrale Rolle in diesem Theater spielte aber auch Justizministerin Ayelet Shaked, die in der Koalition einen einflussreichen Schlüsselpart versieht und als eine der eigentlichen Siegerinnen aus dem «Wahlslalom ins Nichts» hervorgegangen ist.

Sie nannte die nun offensichtlich zur Ruhe gelangte politische Krise «fabriziert» und warnte Netanyahu vor dem «historischen Fehler», den er mit dem Sturz der rechtsgerichteten Regierung begehen würde. Binyamin Netanyahu, um mit dem Chef zu schliessen, verdient auch nicht unbedingt Lorbeeren, wenngleich er mit seinem schwindelerregenden Wahl-Slalom durch das Gestrüpp von Koalition und Opposition einmal mehr bewies, dass er es taktisch mit praktisch der ganzen Knesset aufnehmen kann. Angreifbar aber ist er, wenn es um Patriotismus und um das Volkswohl geht. Beide Faktoren geniessen beim Premier trotz massenweise gegenteiliger Beteuerungen einen wahrscheinlich recht niedrigen Stellenwert. Viel wichtiger sind Netanyahu und seiner Familie, um jeden Preis ungeschoren die Köpfe aus der Schlinge der gegen den Premier laufenden Untersuchungen zu ziehen. Und da lässt man hin und wieder eben Freund und Feind gegeneinander ins Leere laufen, wenn dadurch nur die öffentliche Aufmerksamkeit von den Aktionen der Untersuchungsbeamten und Staatsanwälte abgelenkt werden kann. Das öffentliche Vertrauen für Netanyahu durch dessen mehrfachen Griff in die parlamentarische Trickkiste dürfte langfristig aber kaum gestiegen sein.

Ein fragwürdiges Credo
Die herrschende Situation war ganz nach dem Gusto des Regierungschefs. Am liebsten hat es Netanyahu, wenn alle Fäden in seinen Händen zusammenlaufen, wenn er Freund und Feind fast ganz nach Belieben auf dem Schachbrett seiner Entscheidungen und Spekulationen nmarschieren oder gar rennen lassen kann und wenn er Hinz und Kunz beweist, dass letzten Endes er und kein anderer entscheidet, was wann zu geschehen oder nicht zu geschehen hat. Und sollte alles wirklich so laufen wie der Premier es sich vorstellt, dann wird er sicherlich auch den Anschein erwecken können, es seien ja andere, die die Krise herbeigeführt haben. Er selber habe einfach «keine Wahl gehabt» als in dem Wahlpoker gute Mine zum bösen Spiel zu machen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Dass Netanyahu in erster Linie ein Ziel verfolgt, das mit Staatssicherheit und internationaler Politik aber auch gar nichts zu tun hat, will seine Gefolgschaft verdrängen: Mit ziemlich hoher Priorität will der Premier die Aufmerksamkeit von seinen «Fällen» ablenken und diese allmählich ganz aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwinden lassen. Das mag kurz- und mittelfristig funktionieren. Eines Tages jedoch wird das Volk aufwachen müssen, spätestens dann, wenn es auch dem Letzten dämmert, wie sehr der Mann mit seinen geschmeidigen Reden (vor allem wenn er auf Englisch vor der grossen, weiten Welt referiert) und seinem gewinnenden Lausbubengrinsen ob eines erfolgreichen Tricks oder einer «unmöglichen» Spitzkehre in der Debatte sein fragwürdiges Credo von einem noch fragwürdigeren Einstehen für «Land und Leute» in die Runde schmettert.


Positive Umfragewerte

Das bringt uns zu den in solchen Fällen aus Israels Alltag nicht wegzudenkenden Umfragen, die im Falle der nun abgeblasenen vorgezogenen Wahlen allerdings bereits historischen Charakter haben. Die Erhebungen zeichneten paradoxerweise (oder sollte man eher sagen «erwartungsgemäss»?) ein für den Premier recht günstiges Bild. Laut Umfragen vom Wochenbeginn nämlich würde Likud mit 29 oder 30 Mandaten als stärkste Partei aus vorgezogenen Wahlen hervorgehen. Die Zukunftspartei von Yair Lapid musste gegenüber früheren Umfragen zwar etwas Haare lassen, steht aber mit 21 Sitzen immer noch solide auf dem zweiten Rang. Schwer unter die Räder kam die Zionistische Vereinigung, die sich bei jetzigen Wahlen mit 13 Mandaten begnügen müsste, gegenüber 24 bei den Wahlen zur 20. Knesset.

Das Jüdische Haus bleibt in der Umfrage mit elf Sitzen zwar weiter die viertbeste jüdische Partei (die Arabische Partei würde ein Mandat mehr erhalten), doch Parteichef Naftali Bennett hätte kaum Chancen auf den Job des Premiers. Die TV-Nachrichten warteten diesbezüglich mit einer eigenen Erhebung auf. Netanyahu würde demnach trotz der Umstände von 36 Prozent des Wählervolkes mit klarem Vorsprung gegenüber Rivalen in- und ausserhalb der Koalition als die geeignetste Person für das Amt des Premiers empfunden. Gretchenfrage war allerdings, ob Netanyahu die für eine Auflösung der Knesset nötigen 61 Mandate auf die Beine hätte bringen können. Eine echte Sensation stellt wahrscheinlich die Abgeordnete Orly Levi-Abecsis dar, die sich von Liebermans Israel Beiteinu abgespalten hat, aber in der Knesset geblieben ist. Zwar hat ihre neue Partei bis jetzt weder Namen noch Programm, doch prophezeihten die Umfragen ihr diese Woche auf Anhieb fünf Mandate, womit sie unter Umständen das Zünglein an der Waage sein könnte.


Vorerst abgesagte Koalitionskrise

Schließen wir mit einem Hinweis auf die Kosten der ganzen Übung: Die Staatskasse hätte sich den Spass der vorgezogenen Wahlen rund zwei Milliarden Schekel kosten lassen müssen, während die Wirtschaft wegen des arbeitsfreien Wahltags rund 1,5 Milliarden Schekel verloren hätte. Wer nun ob der im letzten Moment abgesagten Koalitionskrise und der annullierten vorgezogenen Wahlen enttäuscht ist, beweist recht wenig Kenntnis von der parlamentarischen Realität in Israel. Hier gilt nämlich unverändert, dass aufgeschoben nicht aufgehoben ist. Früher oder später werden unzufriedene Koalitionspartner sich vom Regierungschef nicht mehr einschüchtern oder abspeisen lassen. Und sollten bis dann die Untersuchungen gegen den Premier konkrete Fortschritte gemacht haben, dürften die Voraussetzungen für eine handfeste Koalitionskrise wieder gegeben sein. Gegen die dürfte kein Kraut gewachsen sein ausser eben – Neuwahlen.


Foto:

© tachles