Über den Umgang mit dem Antisemitismus
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Redaktionelle Vorbemerkung: Die Beschimpfung eines jüdischen Mädchens an einer Berliner Schule hat in den vergangenen Tagen wieder einmal zu einer Debatte über die Ursachen des Antisemitismus geführt. Neu daran war, dass die Schuld muslimischen Zuwanderern aus dem Nahen Osten zugeschoben wurde. Aber solche Übergriffe hat es bereits vor dem großem Flüchtlingsstrom im Jahr 2015 gegeben. Die Empörung war jedes Mal groß, aber geändert hat sich nichts. Die Ursachen reichen viel weiter zurück. Unser Autor Conrad Taler hat antijüdische Exzesse und die Reaktionen darauf unter anderem 1996 in seinem Buch „Die Verharmloser“ beschrieben. Nachfolgend ein Auszug:
Als Mitte der 1980er Jahre abermals eine Welle antisemitischer Exzesses registriert wurde, wollte die Vizepräsidentin des Bundestages, Annemarie Renger (SPD) wissen, „welches geistige und politische Klima solche Sumpfblüten gedeihen“ lasse, aber das Interesse an einer gründlichen Erörterung des Themas war nicht sonderlich groß. Vor fast leerem Haus wandte sich Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) am 27. Februar 1986 gegen Gedankenlosigkeit und appellierte an die Öffentlichkeit, die NS-Verbrechen niemals zu vergessen. Aber man müsse auch die Proportionen wahren, verlangte er. Es gehe entschieden zu weit, von aufkeimendem Antisemitismus zu sprechen.
In einem Kommentar zu der Bundestagsdebatte räsonierte die „Frankfurter Allgemeine“ tags dartauf, es sei zu fragen, ob das offizielle Reden über den Antisemitismus nützlich gewesen sei. Redensarten...von Nachgeborenen seien nicht Anzeichen eines neuen Antisemitismus, über den der Bundestag...überflüssigerweise...diskutiert habe. Je mehr darüber geredet werde, desto mehr wachse die Gefahr eines neuen Antisemitismus. Demgegenüber meinte Robert Leicht in der Wochenzeitung „Die Zeit“, ein Tabu sei zerbrochen; neu sei nicht der „Vorrat an antisemitischen Tendenzen, sondern die Schamlosigkeit, mit der dieses Repertoire wieder aufgenommen“ werde.
Auf der Suche nach den Ursachen antijüdischer Affekte machte der damalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz Helmut Kohl als Verantwortlichen aus. Er habe einen Bann gelöst, so dass man heute wieder „antisemitisch plappern“ könne. Der Kanzler verfüge über die „geschichtslose Seelengesundheit des kleinen Bürgertums“, die man im Faschismus als „gesundes Volksempfinden“ bezeichnet habe. (Süddeutsche Zeitung, 12. August 1986). Angeregt durch die Debatte veranstaltete die Illustrierte „stern“ eine Umfrage zu diesem Thema, bei der das Allensbacher Institut für Demoskopie ermittelte, dass fünfzehn Prozent der Deutschen den Juden gegenüber feindlich eingestellt waren; der Antisemitismus sei damit auf dem Stand früherer Erhebungen verblieben. Allerdings habe eine zunehmende Bereitschaft der Gesellschaft festgestellt werden können, antijüdische Stellungnahmen zu tolerieren. 66 Prozent der Befragten erklärten, es müsse endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden.
Alarmierende Meldungen über zunehmenden Antisemitismus an Westberliner Schulen veranlassten m Februar 1988 den Präsidenten des Zentralrat der Juden in Deutschlandland, Heinz Galinski, auf einer Sondersitzung des parlamentarischen Schulausschusses im Abgeordnetenhaus davor zu warnen, die antijüdischen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen weiterhin zu vertuschen. Er berichtete über Wandschmierereien, in denen es unter anderem hieß: „Warum die Zeit totschlagen – es gibt doch Juden und Türken, und über Morddrohungen gegenüber jüdischen Schülern, denen angekündigt worden sei: „Die SS holt dich ab.“ Für die politisch Verantwortlichen konnte dies alles nicht neu sein. Bereits 1982 hatten Wissenschaftler der Berliner Freien Universität in einem Bericht über die Verhältnisse an den Berliner Schulen mitgeteilt, überall seien rechtsextremistische Schmierereien und ausländerfeindliche sowie antisemitische Redensarten und Witze an der Tagesordnung. Als eine der Ursachen nannten die Verfasser allgemein mangelndes antifaschistisches Bewusstsein. Sie beklagten, dass die Behörden die Untersuchung der Missstände nur wenig unterstützt und teilweise sogar behindert hätten.“
FORTSETZUNG FOLGT
Foto: Cover