iuGTL158KCDie Römerberggespräche intervenierten gegen das Vergessen und einen Verriss von 1968  Teil 3

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Römerberggespräche, die sich träge dahinschleppten, kamen durch den stürmischen Vortrag von Martin Saar doch noch zum lohnenden Ende. Mit ihm schaltete sich eine spätere Generation in den Diskurs ein.
'None are more hopelessly enslaved than those who falsely believe they are free' - Goethe 
Martin Saar hatte erfasst, worum es in diesem Phänomen 68 ging. Es ging um etwas Neues, noch nicht Dagewesenes. Wir müssen den Abschied vom Parlamentarismus der Berufspolitik einleiten. Dieser hat sich bleiern über die Gesellschaft gelegt.

Zivilgesellschaftliche Gruppen, nichtstaatliche Organisationen und wagemutige Individuen müssen den Parlamentarismus, der sich selbst und die Gesellschaft blockiert und sie in eine gefährliche Lage manövriert hat, überwinden. Greenpeace hat es vorgemacht. Nach ausgemittelten Regeln und unter Anwendung von Checks & Balances muss die Politik in ein neues Zeitalter eintreten. Dies vorausgeschickt.

Der Ansatz von Martin Saar

Die Demokratie ist noch unvollständig. In der aktuellen Lage scheint sie fast zu verschwinden. Das Bewusstsein des Ungenügens der Politik ist allgemein. Die formal gewordene Demokratie – das war immer schon der Vorwurf - ist erst noch zu demokratisieren. Es muss aber anerkannt werden: Die Demokratie kann zeitweilig an ihre Grenzen gebracht werden. Es muss immer wieder neu ausgehandelt werden und wir dürfen nichts ausgrenzen (also nicht nationalisieren). Die Frage: Wer gehört dazu? bringt Stress. Eine neuaufgelegte Demokratie erschien 68 als Phantasma, aber sie kann konkretisiert werden. Das Subjekt der Demokratie ist ein dynamisches.

68 ging davon aus, dass es zu viele Subjekte gibt, die im Diskurs und Aushandeln nicht mitsprechen dürfen. Das ist das zentrale Problem, damit war und ist 68 wiedereröffnet. Parlamente erscheinen als nicht mehr authentisch. Demokratie ist so wenig erkenntlich, dass sie auch von der Rechten beansprucht wird (nationalistisch, ausgrenzend, die Menschheit spaltend). Die Rechte sagt: nur wir sind das Subjekt. Sie hat keine Antworten und grenzt aus. Eine Orientierung gibt immer noch Johannes Agnoli mit seinem Buch „Die Transformation der Demokratie“, die eine Staats- und Parlamentarismus-Kritik beinhaltet. Sie prägte und bewegte die studentische Bewegung von 68 außerordentlich, weil der Notstandsstaat tatsächlich in der Luft lag.

Drei Schritte braucht es

Demokratie verteidigen - Demokratie vertiefen - Demokratie erweitern.

1. Verteidigen

Die Demokratie ist bei Stress - tatsächlichem oder eingebildetem - in Gefahr faschistisch zu werden. Gewalttätige Scheinlösung werden angedacht. Horst Seehofer beglückwünscht den Despoten Orban anlässlich dessen gewonnener Wiederwahl. Die Nerven liegen bei einem Politiker blank, um den es einsam geworden ist. Die Zeitungen melden Kriegsverbrechen, die globale Wirtschaft ist übermächtig und gewinnt die vollkommene Vorherrschaft über alle Güter, die der Gesellschaft heilig sind. Die Finanzspieler lachen sich ins Fäustchen ob der freien Flur, die die Politik ihnen lässt; die Macht der Konzerne, die betrügerisch vorgehen, wird vom Publikum stoisch hingenommen. Die Kanzlerin ist mit ihnen verbündet. Gesellschaften fangen an zu kippen, der Vertrauensverlust der Politik wächst, die Erosion der Ordnung kündigt sich an, es besteht die Gefahr des Abgleitens in Autoritarismus und Willkür.

68 war auch das Jahr der erlassenen Notstandsgesetze, 20 Jahre nach der Hitlerherrschaft. Die Protestbewegung sah sich abgeblockt. Jugend hat ein feines Sensorium, das später abstumpft. Krahl, einer ihrer Führer meinte: die Demokratie ist [schon] am Ende. Heute hat Frau Merkel alles stillgestellt und in ein dauerhaftes Nickerchen vesetzt. Müsste die Demokratie nicht neu begründet werden, braucht sie nicht neue Akteure, die einen neuen Vertrag aushandeln?

2. Vertiefen

Die Demokratie erscheint heute als flaches Gebilde. Sie bewegt Menschen nicht mehr, besonders die Abgehängten nicht. Es fehlt an Gründermüttern und -vätern. Das Parlament, der Ort der Demokratie, hat nicht die genügend wirkmächtigen Institutionen, die es braucht; die Felder der Demokratie brauchen neue Schauplätze, die nach anderen Bewegungsgesetzen funktionieren. Der erste Bewegungsgrund muss die Gesellschaft selbst sein, in ihr muss etwas von statten gehen, statt dass nur ein Verwalten obwaltet. Patriarchalische Verhältnisse müssen herabgestuft, matriarchalische heraufgestuft werden. Das Aufbegehren gegen die überlebte politische Repräsentation nimmt zu.

3. Erweitern

Wer ist das Subjekt? Wer ist das Volk? Was Proletariat? - Darauf gibt es keine Antwort. Das Subjekt der Demokratie muss sich erst ergeben, herausstellen. Diese Frage wird zur Dauerfrage. Gewissheit ist nicht möglich. Demokratische Sicherheiten und Stabilitäten können nicht garantiert werden. Wir wissen nicht, wer und was Volk ist. Cohn-Bendit wurde zum Rädelsführer erklärt, er wurde nationalisiert, negativ, als deutscher Jude, der aus dem Ausland kam, Unruhe stiftete und Frankreichs Republik ins Wanken brachte. Er aber verband Deutschland und Frankreich.

Es braucht einen neuen Stil der Demokratie; ähnlich wie zu Zeiten von Occupy Wallstreet, es war eine Konstitution ohne Sprecher. Wenn Gegensätze aufbrechen, müssen sie ausgemittelt werden. Das Aushandeln muss im Zentrum stehen, nicht Führerfiguren und deren Ansprüche. Immer wieder aushandeln ist das allein Fruchtbare. Die Demokratie muss neu begründet werden. Immer wieder gilt es: auszumitteln und auszuhandeln.

Nach Prof. Dr. Martin Saar, IfS der Frankfurter Universität, Ort der kritischen Gesellschaftstheorie

Foto: commons.wikimedia.com
Schriftzug auf Plakat: „None are more hopelessly enslaved than those who falsely believe they are free
- Goethe -„

Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO:
1. Die Alternative zu 1968 wäre Nihilismus gewesen
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/12933-die-alternative-zu-1968-waere-nihilismus-gewesen
2. Im künftigen 68 hat der Feminismus die Hauptrolle
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/12934-im-kuenftigen-68-hat-der-feminismus-die-hauptrolle
3. Die eigentliche Sendung von 68 steht noch an
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/12935-die-eigentliche-sendung-von-1968-steht-noch-an