Bildschirmfoto 2018 08 20 um 08.53.52Der Streit um die Armeepflicht für ultraorthodoxe Juden entzweit die Knesset – Premier Binyamin Netanyahu droht mit vorgezogenen Neuwahlen

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Sobald der externe Druck auf Israel auch nur notdürftig und partiell eingedämmt ist – die Spannungen an der Grenze Gazastreifens, die demnächst einem formellen Waffenstillstand weichen dürften, sind ein schlagendes Beispiel dafür –, besinnen sich israelische Entscheidungsträger lieber heute als morgen auf die innenpolitischen Probleme, die nach wie vor einer Lösung harren. Angesichts der stetig wachsenden Zahl dieser Probleme nimmt deren lästig anmutende Liste eine peinliche Gestalt an. Je passiver und unlustiger die israelischen Politiker sich vor diesem wuchernden Ungetüm gebärden, umso unwahrscheinlicher erscheint es, dass der innenpolitische Wust in Israel in absehbarer Zeit verschwinden wird. Als ein Beispiel für eine krankende Innenpolitik, das – in der Sprache der Zeitungsmacher gesprochen – schon längst «Stehsatz-Charakter» hat, muss das Thema von meist vorgezogenen Knesset-Neuwahlen gelten.


Rekrutierungsgesetz als Streitthema

An einer Sitzung der in seiner Koalition sitzenden Parteichefs liess Premierminister Binyamin Netanyahu Anfang Woche eine der inzwischen schon zur Routine gewordenen Bomben mit vorgezogenen Knessetwahlen platzen. Wenn das Parlament nicht innerhalb von zwei Wochen einen Kompromiss für das vorgeschlagene Rekrutierungsgesetz für ultraorthodoxe Rekruten eingeht, würde er selber vorgezogene Wahlen wahrscheinlich bereits im kommenden Februar ausrufen. Bevor Ne­tanyahu seine Katze aus dem Sack liess, forderte er alle anwesenden Sprecher und Assistenten auf, den Raum zu verlassen. Im Raum blieben ausser ihm nur noch Innenminister Aryeh Deri (Shas), Finanzminister Moshe Kahlon (Kulanu), Bildungsminister Naftali Bennett (Das Jüdische Haus), Koalitionsvorsitzender David Amsalem (Likud) und der Abgeordnete Moshe Gafni (Vereinigtes Thora-Judentum). Vizegesundheitsminister Yaakov Litzman war nicht anwesend, während Verteidigungsminister Avigdor Lieberman die Sitzung boykottierte. Dem Vernehmen nach schlug der Regierungschef einen verärgerten Ton an, wobei seine Worte vor allem an Deri und Gafni gerichtet waren. Diese wiederum meinten, der Ball liege im Feld von Litzman und den Rabbinern. Aus der Nähe von Ne­tanyahu verlautete, er sei entschlossen, den Terminkalender für Neuwahlen zu kontrollieren. Er werde nicht zulassen, dass die Verabschiedung eines neuen Rekrutierungsgesetzes bis zu dem vom Obersten Gerichtshof gesetzten letzten Termin von Anfang Dezember hinausgezögert werde.


Harte Fronten

Das jetzt zur Diskussion stehende Gesetz schliesst keine strafrechtlichen Schritte gegen Dienstverweigerer ein. Gleichzeitig aber wird der Staat aufgerufen, die Unterstützung für Jeschiwot (Talmud-Hochschulen) zu reduzieren, die sich nicht an die Rekrutierungsziele halten. Das ultimative Ziel des Gesetzes wäre die Einberufung von knapp 7000 ultraorthodoxen Rekruten bis zum Jahr 2027. Dabei besitzt das Verteidigungsministerium die Kompetenz, Kandidaten, die 21 Jahre alt oder älter sind, aus religiösen Gründen vom Dienst zu befreien. In seiner Reaktion zitiert «Haaretz» Litzman wie folgt: «Wir sind nicht interessiert an Wahlen, doch können wir keine Kompromisse bei der Debatte über den Status von Vollzeit-Jeschiwastudenten eingehen.» In anderen Worten haben für die religiösen Parteien auch dieses Mal die Rabbiner das letzte Wort. Das erlaubt beispielsweise Litzman, aber auch Deri, sich hinter dem breiten Rücken der geistigen Oberhäupter zu verstecken. Das Ganze sieht entweder aus wie eine weitere Auflage des bekannten Hornberger Schiessens oder die Angelegenheit deutet auf eine vielleicht Monate dauernde Wahlkrise hin.


Die Bedingungen

Verschiedene Szenarien bieten sich an, abgesehen von einem Wiederaufflammen der Hamas-Gewalt, verbunden mit einer israelischen Vergeltungstaktik, die noch harscher ausfallen dürfte als bisher. Sollte dieses Szenario Wirklichkeit werden, dürfte die Inangriffnahme vorgezogener Wahlen hinausgeschoben werden, und letzen Endes werden die Israeli froh sein müssen, wenn sie, wie regulär geplant, im November 2019 an die Urnen gehen können.

Vorgezogene Wahlen könnten unter folgenden Vorzeichen angegangen werden:

1. Auflösung der sich in den Sommerferien befindlichen Knesset schon in zwei Wochen. Das erfordert die Verabschiedung des nötigen Gesetzes während des parlamentarischen Urlaubs. Diese Variante ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.

2. Das Kabinett Netanyahu wird weiter regieren. Das könnte geschehen, wenn die Rabbiner das Gesetz in seiner vorgeschlagenen Form ablehnen, gleichzeitig aber ersuchen, die Regierung ohne die Ultraorthodoxen weiter am Leben zu erhalten. Die Verwirklichung dieser Variante ist eher unwahrscheinlich, ist Netanyahu doch nicht interessiert an einer engen Koalition.

3. Neuwahlen werden auf eine längere Bank geschoben, Premier Netanyahu und die in seiner Koalition sitzenden Parteichefs einigen sich auf die Auflösung der Knesset, aber nicht mit sofortiger Wirkung. Denkbar wäre ein Termin im Zeitraum von fünf Monaten nach der Rückkehr aus den parlamentarischen Ferien, also Anfang 2019. Diese Variante hat realistische Chancen.

4. Wahlen zum ursprünglich vorgesehen Zeitpunkt. Unter den chassidischen Abgeordneten setzt sich die Meinung durch, dass das vorgeschlagene Rekrutierungsgesetz nicht die beste Lösung wäre, welche die charedische Gesellschaft anstreben könnte. Folge: Die Regierung wird bis zum ursprünglich vorgesehenen Termin vom November 2019 im Amt bleiben. Diese Variante hat durchaus Chancen, auch wenn sie Netanyahu bei seiner derzeitigen Gemütsverfassung nicht sonderlich in den Kram passen dürfte.

Was aber sind Gefühle und Gemütsverfassungen in der israelischen Innenpolitik schon wert? Kaum mehr als einen Pfifferling, und noch viel weniger, wenn man den Wankelmut und die Entscheidungsschwäche in Betracht zieht, wie sie die heutigen Entscheidungs­träger in Jerusalem auszeichnet.


Foto:
Noch ist offen, ob Binyamin Netanyahu seine Ankündigung wahrmacht, Neuwahlen zu lancieren.
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. August 2018