Bildschirmfoto 2018 11 04 um 09.23.20Interview mit Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds

Yves Kugelmann

Bern (Weltexpresso) - Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund spricht sich nach dem Attentat von Pittsburgh gezielt gegen die Selbstbestimmungsinitiative aus – Präsident Herbert Winter erklärt die Gründe des Dachverbands.

tachles: Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) plädiert für die Ablehnung der sogenannten Selbstbestimmungsinitiative (SBI). Weshalb engagiert sich der SIG bei dieser Initiative mehr als bei anderen Abstimmungsvorlagen?

Herbert Winter: Wir engagieren uns tatsächlich nicht sehr häufig in Abstimmungskämpfen. Wir setzen uns dann für oder gegen eine Vorlage ein, wenn die Interessen und Bedürfnisse von Juden im Speziellen oder von Minderheiten im Allgemeinen betroffen sind. Völkerrecht und Menschenrechte sind zentrale Pfeiler des Minderheitenschutzes. Deshalb hat der Kampf gegen die SBI für uns eine besondere Bedeutung.


Wo sehen Sie die Hauptgefahr der Initiative?

Völkerrecht und Menschenrechte verlieren ihren Status als übergeordnetes Recht. Damit verlieren auch die darin festgehaltenen Sicherheitsgarantien gegenüber Minderheiten an Wirkung. Als Juden können wir das nicht zulassen.


Der SIG argumentiert, «Völkerrecht und Menschenrechte bieten Schutz vor Diskriminierung und garantieren Minderheiten Rechte, die auch dem Staat gegenüber durchsetzbar sind». Ist der Staat für Minderheiten gefährlich?

Wie die Geschichte immer wieder zeigte, kann der Staat sehr wohl die Rechte von Minderheiten gefährden. Deshalb ist es wichtig, dass es für jede Person Möglichkeiten gibt, gegen den Staat juristisch vorzugehen. Gerade dafür wurden völkerrechtliche Verträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention und Institutionen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen.


Sie sehen durch die Initiative den Minderheitenschutz geschwächt. Inwiefern?

Für eine religiöse oder kulturelle Minderheit besteht auch in einer Demokratie die Möglichkeit, dass sie durch die Mehrheit in der Ausübung ihrer religiösen und kulturellen Rechte und Handlungen beträchtlich eingeschränkt oder gar einer Gefahr für ihre Freiheit, aber auch für Leib und Leben ausgesetzt wird. Deshalb ist es wichtig, dass man die Möglichkeit hat, sich über das Bundesgericht hinaus zu wehren. Durch die Kündigung der Menschenrechtskonvention als Folge einer Annahme der SBI könnte am Ende die wichtige letzte Instanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg wegfallen. Hätte es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits eine völkerrechtlich verpflichtende und allgemein akzeptierte Menschenrechtskonvention gegeben, wären die Opfer von staatlich verordneter Diskriminierung besser geschützt gewesen.


Konkret: Was für Konsequenzen für die jüdische Gemeinschaft hätte eine Annahme der Selbstbestimmungsinitiative?

Gerade die immer wiederkehrenden Debatten um Beschneidung, Koscherfleisch oder um das Tragen religiöser Kopfbedeckungen zeigen, dass Minderheiten um das Recht auf ihre Lebensweise kämpfen müssen. Das gilt für Juden, aber auch für alle anderen Minderheiten in diesem Land.


Was schützt gerade etwa Jüdinnen und Juden besser im Völker- denn im Schweizer Recht?

Das Schweizer Recht kennt natürlich einen Minderheitenschutz, der auch gut ausgebaut ist. Das Völkerrecht ist jedoch eine zentrale Ergänzung, falls der nationale Minderheitenschutz einmal nicht greifen sollte.


Wie groß ist Ihre Sorge, dass zunehmend auch Jüdinnen und Juden Vorlagen der SVP und in diesem Falle die Selbstbestimmungsinitiative unterstützen?

Selbstverständlich steht es allen Juden und Jüdinnen frei, wie sie abstimmen möchten. Wir geben aber Empfehlungen ab, die wir auch fundiert darlegen und verteidigen. Ich appelliere an alle Juden in diesem Land, ein klares Nein einzulegen.


Die SVP will keine «fremden Richter», sondern das eigene «Volk» als letzte Instanz. In Osteuropa und anderen Ländern sind solche Forderungen nicht neu. Befürchten Sie, dass auch in der Schweiz die Judikative und somit die unabhängige Justiz geschwächt werden könnte?

Um das geht es ja gerade. Nicht umsonst haben wir ein derart ausgebautes Rechtssystem mit mehreren Instanzen geschaffen. Dass dieses System demontiert wird, wollen wir verhindern, indem wir gegen diese populistische Initiative kämpfen. Eine Kündigung der Menschenrechtskonvention als Folge der Annahme der SBI durch die Schweiz dürfte auch willige Nachahmer finden in Staaten Europas, deren Regierungen schon heute an den Menschenrechten ritzen wie zum Beispiel Ungarn und Polen.


Am letzten Wochenende erschütterte das Attentat auf die Synagoge von Pittsburgh nicht nur die jüdische Welt. Ist Pittsburgh ein Einzelfall oder eine logische Konsequenz in Zeiten, da der Rechtsextremismus wieder auf dem Vormarsch ist?

Zunächst einmal bin ich zutiefst bestürzt über das Attentat und trauere um die Opfer. Diesen und ihren Angehörigen drücke ich mein Mitgefühl und meine tief empfundene Anteilnahme aus. Leider stellen wir fest, dass sich die Sicherheitslage für Juden in Europa in den letzten Jahren verschlechtert hat. Wir sehen uns erstarkenden rechtsextremen Bewegungen und djihadistischen Fanatikern gegenüber. Ein Anschlag wie in Pittsburgh ist ein Extremfall, muss aber auch im Kontext von alltäglichen Übergriffen auf der Strasse und auch von antisemitischer Hassrede im Netz verstanden werden. All das zusammen zeigt, dass wir und die Gesellschaft jetzt noch mehr tun müssen, um Vorurteilen und Hass zu begegnen. Und es zeigt sich, dass unsere Sicherheitsanliegen mehr als berechtigt sind.


Bis jetzt waren Europas Juden Opfer von Terror-Attacken. Unter Trump öffnen sich anscheinend neue Schleusen in den USA. Sie sind einer der Vizepräsidenten des World Jewish Congress. Wie muss jetzt reagiert werden?

Der World Jewish Congress, wie auch der European Jewish Congress, hat sich den Kampf gegen Hassrede auf die Fahne geschrieben. Das ist jetzt wichtiger denn je. Besonders in den USA, aber auch in der Schweiz, hat sich in der Politik und in den Medien ein viel aggressiverer Ton durchgesetzt. Der politische Gegner wird zunehmend diffamiert, schlechtgeredet und zum Feindbild hochstilisiert. Dann muss man sich leider auch nicht wundern, wenn gewisse Menschen anfangen, diesen Feind zu bekämpfen. Darum ist für mich klar, dass wir sofort wieder damit anfangen müssen, alle Menschen, egal welcher politischer Couleur, mit Respekt und Achtung zu begegnen. Auf die Situation in den USA haben wir als SIG keinen Einfluss, auf den Umgang miteinander in der Schweiz können wir jedoch sehr wohl versuchen, einen positiven Einfluss zu nehmen.

Foto:
Auch der SIG spricht sich in aller Deutlichkeit gegen die Annahme der Selbstbestimmungs­initiative aus
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 2. November 2018