Bildschirmfoto 2018 11 17 um 09.12.20Israel: Wird Gaza zum Fallstrick für Netanyahu?

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Die Eskalation in Gaza scheint nach den jüngsten Ausschreitungen schwer zu stoppen – sollte eine Waffenruhe Bestand haben, könnte diese sich nachteilig für den Premier auswirken.

Alleine bis Dienstagmittag haben die palästinensischen Terroristen mit der Hamas an der Spitze gegen 450 Raketen auf Israel abgefeuert. Im Rahmen israelischer Vergeltungsaktionen haben sie dabei sieben eigene Leute verloren, während die IDF den Verlust des sagenumwobenen Oberstleutnants M., Mitglied einer extrem geheimen Sondereinheit, zu beklagen hat. Thematisch eine Neben­sache ist hier dabei der Umstand, dass die Militärzensur aus den sattsam bekannten, aber stets weniger glaubwürdig erscheinenden «Sicherheitsgründen» die Nennung des vollen Namens des Offiziers verbietet. Gesellschaftliche Medien dagegen, ganz zu schweigen von der ausländischen Presse, liefern sich seit Tagen schon einen verbissenen Konkurrenzkampf darum, wer wohl, verbunden mit dem Nennen des ausführlichen Namens des Gefallenen, die besten und ergreifendsten Geschichten und Heldentaten dieses höchst verdienstvollen Armeeange­­hörigen, seiner Familie und Freunde in die Welt setzen kann.

Vor dem Hintergrund des heutigen Stands des elektronischen Fortschritts umgibt die israelische Zensur sich mit einer stets fragwürdigeren Aura des Verblichenen, Antiquierten und Rückständigen. Angesichts der Omnipotenz dieser Organisation im israelischen Alltag verzichtet Ihr Korrespondent darauf, die Zensur-Gewaltigen mit der Nennung­ «verbotener» Details zu provozieren. Er kann aber keinen tachles-Leser daran hindern, sich seine eigene Meinung über diese Politik zu bilden,­ die zu einem Rohrkrepierer werden kann.

Unbestreitbar bleibt aber, wie bereits gesagt, der Umstand, dass es sich hierbei um eine thematische Nebensache handelt, deren Behandlung wir ruhig den Sachverständigen (mit oder ohne Anführungszeichen) überlassen können. Ob sich hinter M. ein Herr Müller oder Meier verbirgt, dürfte in ein paar Jahren, wenn überhaupt, nur noch die Produzenten von Gedenktafeln und -steinen interessieren.


Die Folgen

Ganz anders verhält es sich mit den strategischen und taktischen Folgen des jüngsten Gewaltaustausches in Israels Süden. Israelische Verteidigungskreise waren Anfang Woche, aber nach den Ereignissen des Sonntags, nicht der Ansicht, dass diese die Bemühungen beeinträchtigen würden, einen Deal für den Gazastreifen zu erzielen. «Haaretz» ging am 
12. November sogar so weit, Verteidigungskreise zu zitieren, die «nach dieser letzten Runde von Ereignissen» keine weitere Eskalation erwarten würden. Vorausgesetzt natürlich, die Hamas würde die Kontrolle über seinen Teil an einem Abkommen nicht verlieren. Hier aber begann es, innert weniger Stunden bereits zu hapern. Von Montagmittag bis Dienstagmorgen schossen die Terroristen­ nämlich mehr als 400  Raketen auf Israel ab. Dabei starb in Ashkelon ein etwa 40-jähriger Palästinenser (mit Arbeitsbewilligung für Israel), und zwei Frauen wurden lebens­gefährlich verletzt. Laut Angaben aus Gaza war der Mann das fünfte palästinensische Opfer in der gegenwärtigen Runde der Gewalt. Zuvor wurde ein 19-jähriger Israeli beim Niedergang­ einer Rakete auf einen Autobus, der voll­ständig ausbrannte, schwerstens verletzt. Dass der Mann einziges Opfer dieser Attacke war, ist dem glücklichen Umstand zuzuschreiben, dass Minuten vor dem Angriff etwa 50 IDF-Soldaten den Bus verlassen konnten, obwohl die Hamas-Scharfschützen sie voll in ihrem Blickfeld hatten.


Drohende Eskalation

Die israelische Seite blieb angesichts dieser Ausweitung der Gewalt logischerweise nicht untätig. So beschoss die Luftwaffe in der Nacht vom Montag auf den Dienstag mehr als 100 Objekte von Hamas und Islamischem Jihad. Dazu gehörte nach israelischen Angaben ein Geheimdienstkomplex im Zentrum von Gaza direkt neben einer Schule, einer Moschee und diplomatischen Einrichtungen. Im Komplex selber befanden sich ein Kindergarten und ein Munitionsdepot. Laut IDF-Angaben wurde er für die geheimdienstliche­ Informationsgewinnung sowie für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten benutzt. Auch Hamas-Büros für öffentliche Sicherheit wurden von den Bombardierungen getroffen. Ein Sprecher des militärischen Flügels der Hamas warnte die israelische Seite, dass man Ziele in Beersheva­ und Ashdod ins Visier nehmen würde, sollte Israel «mit seiner Aggression fortfahren». Ohne offiziell auf solche und andere Wortmeldungen der Gegenseite zu reagieren, wurde durch den Armeesprecher bekanntgegeben, dass die IDF bereits am Dienstag damit begonnen hätten, Panzerkorps und Infanterie­einheiten an der Grenze zu Gaza zu verstärken. Es bedarf keiner besonderen Fantasie für die Vermutung, dass die Truppenbewegungen helfen sollen, ein eventuelles Einrücken in den Gazastreifen vorzubereiten­ – für kurze Blitzaktionen oder dann, um Fusstruppen oder Spezialeinheiten die nötige Rückendeckung für einen längeren Aufenthalt dort zu gewähren.

Wegen der drohenden Eskalation durch die Palästinenser gab das Sicherheitskabinett während seiner Dringlichkeitssitzung vom Dienstag bekannt, dass es die Kontakte mit den ägyptischen Vermittlern und Uno-Sonderbotschafter Mladenov fürs Erste suspendiert habe. Die Sinnlosigkeit dieser Kontakte scheint sich für Israel allzu deutlich erwiesen zu haben, obwohl sich schon bald zeigen sollte, dass die Sache mit der Suspendierung nicht zum Nennwert zu nehmen war. Gegen die Opposition von Mitgliedern wie Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, Justizministerin Ayelet Shaked und Bildungsminister Naftali Bennett gelangte das Sicherheitskabinett unter dem Vorsitz von Premier Binyamin Netanyahu­ zum Entschluss, der Armee den Auftrag zu erteilen, mit ihrer Praxis «je nach Bedarf» weiterzumachen.

Im Klartext heisst das, bei entsprechender Ruhe auf der Gegenseite die Waffen schweigen zu lassen. Die (vorläufig) letzte palästinensische Rakete flog denn auch am Dienstag nach 16 Uhr Ortszeit gegen Israel. Ein offenbar gut informierter westlicher Diplomat meinte am Dienstag, die Vermittlungsbemühungen würden fortgesetzt, und eine ägyptische Delegation wurde am Mittwoch in Israel erwartet. Ägypten und Uno-Sonderbotschafter Nickolay Mladenov sind seit Wochen damit beschäftigt, die Ruhe im Gazastreifen wieder herzustellen. Offenbar zeigten ihre Stabilisierungsbemühungen Erfolge, als am Sonntag eine geheime Operation der israe­lischen Armee misslang. Die Identität der Soldaten tief im Gazastreifen wurde aufgedeckt, was den Tod des IDF-Offiziers M. und von sieben Palästinensern zur Folge hatte. Das wiederum verursachte den Ausbruch der neuesten Runde der Gewalt. Die Hamas drohte zunächst wieder mit einer geografischen Ausweitung des Raketenfeuers, während Israel seine Truppen an der Grenze zum Gazastreifen sichtlich verstärkte. Gleichzeitig verdichteten sich am Dienstag gegen Abend die Meldungen aus palästinensischen Quellen, wonach man grundsätzlich auf Bestreben Kairos zu einer erneuten Waffen­ruhe bereit sei. Um 17 Uhr Ortszeit erfolgte dann eine entsprechende offizielle Meldung aller palästinensischen Gruppen. Erfolg und Bestand der Ruhe würden vom Verhalten Israels abhängen. Ein israelischer Offizieller drehte den Stiel um und meinte, Israels Haltung zum Waffenstillstand hänge von den Entwicklungen am Boden, will heissen vom Verhalten von Hamas und Jihad, ab.


Proteste der Bevölkerung

Bereits am Dienstagabend kam es an Stras­senkreuzungen in Sderot zu heftigen Protesten der Bevölkerung gegen die ihrer Meinung nach verfrühte Waffenruhe. Zum wiederholten Male und auch dieses Mal wohl nicht ganz unbegründet kamen die Demonstranten sich von der eigenen Regierung und Armee verkauft vor. Paradoxerweise sieht es so aus, dass die Waffenruhe, sollte sie halten,­ für Netanyahu zu einem nur schwer zu überwindenden politischen Fallstrick werden könnte. Sderot ist zwar nicht das ganze Land, doch mit der richtigen (rechten) Taktik können Leute wie Lieberman, Shaked oder Bennett­ die Situation leicht zu einem nationalen Flächenbrand auswalzen.

Foto:
Rund 450 Raketen gingen im nördlichen Gazastreifen nieder
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 16. November 2018







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