Zu einer Kampagne des Hessischen Rundfunks
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Sind wir ein gespaltenes Land? Brauchen wir ein neues Wir-Gefühl? Was trennt uns?“
Das fragt der Hessische Rundfunk seine Hörer auf der Internetsonderseite www.deutschland2019.de. Die sechs Radioprogramme des HR möchten über die vermeintliche Spaltung der Gesellschaft mit den Abgespaltenen ins Gespräch kommen. Dazu tourt ein Redaktionsteam, die WIR-Box, durch ganz Hessen.
Wer diese freundliche Einladung zum offenen Gespräch liest und hört, wird sicherlich gern seine persönlichen Einschätzungen zu Gehör bringen. Ich kann die folgenden Erfahrungen dazu beisteuern:
Der etwa 14 Jahre alte Junge hatte große Mühe, das Plakat über dem Büchertisch korrekt zu lesen: „Es geht alles vor...über, es geht alles vorbei. Auch Alex Ga..u..land und seine Par..tei.“ – „Kennst Du Alex Ga..u..land?“ fragte er die jüngere Frau, die sich mit einer kleinen Gruppe von Mädchen und Jungen etwas abseits hielt. Mutmaßlich war sie Lehrerin und beauftragt worden, mit ihren Schülern das Bibliothekszentrum in Sachsenhausen zu besuchen. Sehr begeistert schien sie darüber nicht zu sein und vielleicht beantwortete sie deswegen die Frage des Jungen mit einem unwirschen „Nein“. Dann drängte sie die Kinder weiter, hin zur Ecke, wo Spiele, Filme und eBooks ausgestellt waren. Denn unser Büchertisch mit politisch ambitionierter Literatur schien sie völlig zu verunsichern.
Ich erlebe solche und ähnliche Situationen bei allen zehn Büchertischen und Lesungen, die der gemeinnützige Verein PRO LESEN e.V. jährlich im Bibliothekszentrum Sachsenhausen veranstaltet. Im Februar wird es der neunundsiebzigste seit März 2011 sein. Von den mehr als 800 Dauerinteressenten, die um laufende Information gebeten haben (aber nicht immer kommen können, weil es so viele gute Kulturangebote in Frankfurt gibt), sind zwei Drittel in der Altersklasse 50 plus. Aus der Gruppe der 14- bis 19-jährigen sehen wir nur selten jemanden am Büchertisch, bei den Lesungen fast nie. „Ihre Themen übersteigen das heutige Niveau des Gymnasiums, von dem der Real- und Hauptschule ganz zu schweigen“, sagen mir die, die es wissen müssten. Nämlich jene Lehrer, die man als Überzeugungstäter bezeichnen könnte und die sich selbstkritisch nach den Ursachen dieser Entwicklung fragen.
Wenn ich in den Schulbüchern der 70er und 80er Jahre blättere, die ich exemplarisch archiviert habe, weil ich als Verlagsmitarbeiter daran beteiligt war, kann ich lediglich feststellen, dass PRO LESEN sich um die Standards bemüht, die damals in den Lehrbüchern für Deutsch und Gesellschaftskunde vorgegeben waren. Obwohl es auch, etwa ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre, bereits kritische Stimmen gab. Erinnert sei an die des Pädagogen und Philosophen Georg Picht („Die deutsche Bildungskatastrophe“, 1964).
Der Verein nutzt sowohl für die interne als auch die externe Information elektronische Medien. Die Betonung liegt dabei auf Information (persönliche E-Mail-Kommunikation, engmaschiger Versand von Newslettern, eigene Homepage mit Meldungen und Hintergrundinformationen). Im Bereich Desinformation und Fake-News (Facebook, Instagram, Whatsapp, Twitter) spielt er nicht mit.
Unsere Erfahrungen besagen, dass die Gesellschaft gespalten ist. Gespalten in einen Teil, der geprägt ist durch einen Mangel an Allgemeinbildung und politischem Bewusstsein; letzteres in bestimmten Segmenten verstärkt durch religiösen Fundamentalismus. Und in einen ähnlich großen, der die anerzogene Dummheit des anderen zum eigenen Vorteil ausnutzt und diesen Vorsprung zementieren möchte, also kein Interesse an Veränderung hat. Beide Gruppen fallen durch eine bedenkliche Sprachlosigkeit auf. Selbst die Angehörigen der besser gebildeten Schichten sind selten zu Differenzierungen in der Lage.
Wir nehmen auch noch einen dritten Teil wahr, der sich durch typische Minderheitenpositionen auszeichnet. Wenn wir hochrechnen, was uns in unserem Wirkungsbereich begegnet (vorrangig in Bibliotheken, Kulturinitiativen und im Theater), kommen wir auf etwa 15 Prozent der heranwachsenden und erwachsenen Bevölkerung.
Der eindimensionale Mensch, den Herbert Marcuse bereits 1964 ausmachte, scheint der normale geworden zu sein. Es hat den Anschein, dass er vor lauter Phantasielosigkeit keine Alternativen zum Leben als instrumentalisierter Konsument mehr sieht.
Foto:
Die Kampagne „Wir hören dich“ der HR-Hörfunkprogramme
© Hessischer Rundfunk