kpm KNV LogistikDer deutsche Buchhandel befindet sich in einer existenziellen Krise

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Vor zwei Wochen musste der Buchgrossist KNV, der größte seiner Art in der Bundesrepublik, Insolvenz anmelden. Das deutet auf eine Krise des gesamten deutschen Buchhandels hin.

Erste Anzeichen einer um sich greifenden Veränderung sind bereits seit einem Jahrzehnt die Stellenanzeigen im Verbandsblatt der Verlage und Buchhandlungen, dem „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“. Wenn man die dort aufgelisteten Anforderungen an die mittlere und hohe Führungsebene aufmerksam verfolgt, gewinnt man den Eindruck, dass auch die erzählende Literatur endgültig zu einer reinen Ware geformt werden soll. Marketing-, Werbe- und Vertriebsexperten werden gesucht. Kenntnisse der Literaturszene, gar der Literatur selbst, werden selten bis gar nicht erwähnt. Die Kulturtechniken des verstehenden Lesens und Schreibens werden zumindest noch indirekt vorausgesetzt.

Der jung-dynamische Nachwuchs soll die schöngeistige Literatur umformen. Zu einer Ware, die in hohen Auflagen produziert und in Selbstbedienungsregalen und auf Wühltischen gestapelt werden kann. Lancierte Kaufempfehlungen in den Massenmedien sollen weitgehend die fachkundige Beratung ersetzen.

Wichtige Aufgaben in diesem Vermarktungskonzept kommen Bestsellerlisten zu, deren Zuverlässigkeit angezweifelt werden darf. Denn die Verkaufsstatistiken der Buchgrossisten weisen zum Teil völlig andere Titel aus. Dort nehmen das Liederbuch „Die Mundorgel“ und der Rechtschreib-DUDEN Spitzenplätze ein. Ebenso sind die Standardbibelausgaben der evangelischen Deutschen Bibelgesellschaft und des Katholischen Bibelwerks gut platziert. Und nicht ausländerfeindliche Pamphlete wie „Deutschland schafft sich ab“ oder „Feindliche Übernahme“ aus der Feder eines Thilo Sarrazin. Oder Rechtfertigungen von Nationalismus und Rassismus, vor denen das Buch des verstorbenen Historikers Sieferle überquellen, das den bezeichnenden Titel „Finis Germania“ trägt. Daneben dann Unterhaltungsromane der schlichtesten Art, die bei geübten Lesern ein großes „Kotz Würg“ auslösen können.

Ein weiterer bestimmender Faktor in diesem Massengeschäft sind die Eigenmechanismen eines Systems. Ist dieses erst einmal in Gang gekommen, läuft es nach bekannten Regeln ab. Treibende Elemente sind das Zusammenspiel von in Auswahl- und Bestsellerlisten hochgepuschten Buchtiteln, von darauf beruhenden Marketingaktionen der Filialisten Thalia, Meyersche Buchhandlung, Hugendubel und Osiander sowie der nahezu allgegenwärtigen Internetpräsenz des Online-Händlers Amazon.

Solche Systemveränderungen gehen an den ca. 5.000 traditionellen Buchhandlungen nicht spurlos vorbei. Bei ihnen handelt es sich überwiegend um Kleinbetriebe und um mittelständische Unternehmen. Da von ihnen niemand in der Lage ist, die ca. 1 Million deutschsprachiger Titel (inklusive der Fach- und Wissenschaftsliteratur) am Lager zu halten, bedienen sie sich seit Jahrzehnten des Großhandels, der im Fachjargon „Barsortiment“ genannt wird. Hier kann der Buchhandel zumeist von heute auf morgen für seine Kunden ordern.

Es gibt drei überregional tätige Firmen. Der (bislang) größte ist Koch, Neff & Volckmar (KNV) mit Firmensitz in Stuttgart und einem fünf Jahre neuen Logistikzentrum in Erfurt. Der zweite der großen Drei ist Lingenbrink (Libri) in Hamburg, auf den mit großem Abstand Umbreit in Bietigheim-Bissingen (zwischen Stuttgart und Heilbronn gelegen) folgt.

Ausgerechnet der Primus, KNV, hat nunmehr Insolvenz angemeldet. Die Gründe dafür sind mutmaßlich einerseits hausgemacht, andererseits dürften sie in Strukturproblemen der Branche liegen. KNV hat sich allem Anschein nach mit Bau und Betrieb des Logistikzentrums in Erfurt übernommen. Allerdings ist das Geschäft der Barsortimente insgesamt seit sieben, acht Jahren rückläufig. Denn sowohl die erwähnten Filialisten als auch Amazon verfügen über eigene Großläger. Folglich ist das früher bei den Barsortimenten abgerufene Volumen deutlich geschrumpft.

Dieser Entwicklung steht eine Vorschrift des Preisbindungsgesetzes entgegen, die den Wettbewerb im Kultursektor Verlage und Buchhandel gewährleisten soll. Sie verpflichtet die Verlage dazu, dem Zwischenbuchhandel (also den Barsortimenten) keine höheren Rabatte zu gewähren als Letztverkäufern, die sie direkt beliefern (also dem in großen Stückzahlen einkaufenden Bucheinzelhandel). Diese Höchstmarge beträgt maximal 50 Prozent. Von dieser Spanne müssen die Grossisten zwischen 30 bis 35 Prozent an den Buchhandel weitergeben; bei Fach- und Wissenschaftsbüchern sind es im Durchschnitt jeweils 5 Prozent weniger. Doch exakt gegen dieses Gesetz wird permanent verstoßen.
Amazon fordert 55 Prozent Nachlass und Thalia, Meyer, Hugendubel und Osiander melden ähnliche Begehrlichkeiten an. Letztere werden vielfach als Werbekostenzuschüsse verdeckt. In der Realität liegt die Marge, die den Großen von den Verlagen zähneknirschend gewährt wird, bei nahezu 60 Prozent. Da ist es kein Wunder, dass Verlage längst auf Quantität statt auf Qualität setzen. Denn diesen ruinösen Wettbewerb kann man nur noch überstehen, wenn man permanent Schrott produziert. Schrott, dessen Alibi-Name Literatur heißt. Immer vorausgesetzt, dass es immer ausreichend anspruchslose Leser gibt.

Auf den Internetseiten solcher Verlage findet man als Bezugsquellen vorrangig Hinweise auf Amazon, Hugendubel, Mayersche Buchhandlung, Osiander oder Thalia. Zumeist nur in der Größe einer Fußnote wird – quasi als Alibi - auf den Buchhandel am Ort verwiesen. Aber diesem Pflichtvermerk fehlt die Überzeugungskraft; er stinkt – er stinkt vor Einfältigkeit und vor Geringschätzung des Publikums.

Vor allem die „SPIEGEL-Bestsellerliste“ hat sich hinsichtlich der Lenkung von Kundeninteressen zu einem bedeutenden Werkzeug der Branche entwickelt. Besondere Nutznießer sind die großen Filialisten sowie der Online-Händler Amazon. Dort wurde die Sortierung der angebotenen Bücher nach Autoren und /oder Literaturgattungen einschließlich inhaltlicher Bewertungen häufig bereits abgelöst durch eine Auswahl, welche sich eng an der Platzierung auf Bestenlisten orientiert. Der Kundschaft wird zusätzlich das angebliche Kaufverhalten anderer als Richtschnur empfohlen: „Wer dieses Buch bestellte, hat auch folgende Titel gekauft“.

Doch auch Verkaufslisten, die dem tatsächlichen Warenabsatz entsprechen oder ihm doch sehr nahe kommen, vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Verkaufserfolg eines Buches dessen inhaltliche Qualität zunehmend in den Hintergrund rückt.

Letztere sollte vor allem für öffentliche Bibliotheken das wesentliche Einkaufskriterium sein, was nicht zu Lasten einer gut geschriebenen Unterhaltungsliteratur gehen muss. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat zuletzt am 1. Februar 2007 in ihren Empfehlungen für das Angebot an Kinder- und Jugendliteratur in kommunalen Büchereien an ein allgemeines Votum von 1994 erinnert. Wörtlich heißt es darin:

„Die Öffentlichen Bibliotheken sind Informations-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Sie haben die Aufgabe, der Bevölkerung Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Bild- und Tonträger sowie andere Medien bereitzustellen, ebenso Daten und Informationen zu übermitteln und die Benutzerinnen und Benutzer zu beraten.“

Dennoch ist das Tor zu kommunalen Büchereien immer häufiger die unreflektierte Übernahme der „SPIEGEL-Bestsellerliste“. Und die fachkundige Beratung der Leser durch Bibliotheksmitarbeiter wird immer mehr zur Ausnahme.

Bestsellerliste werden als Referenz von einem Unternehmen eingesetzt, das sich ursprünglich im Eigentum öffentlicher Körperschaften befand, sich aber seit 2005 zu zwei Dritteln im Privatbesitz befindet. Die Rede ist vom „ekz.bibliotheksservice“ in Reutlingen, der einmal „Einkaufszentrale für öffentliche Bibliotheken“ hieß. Dessen angestellte und externe Lektoren durchforsten die Verlagsangebote, was nominell anhand der Richtlinien der Kultusministerkonferenz geschehen müsste, und erstellen Einkaufsempfehlungen für die Büchereien. Allem Anschein basieren diese allenfalls nur zu einem Teil auf dem literarischen Urteilsvermögen von Fachleuten. Denn nachweislich werden immer stärker Bestsellerlisten unkritisch herangezogen. Da die staatlichen Bibliotheken in besonderer Weise unter dem verordneten Sparzwang der Landesregierungen leiden, ist man dort gezwungen, den Stab an Bibliothekaren klein zu halten und verlässt sich auf die „ekz“.

Die stattet die bei ihr bestellten Bände auch ausleihfertig aus (Schutzfolie, Chip für die elektronische Erfassung) und bietet zusätzlich Regalsysteme an. Der anhaltende Trend zum Einkauf in Reutlingen bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den örtlichen Buchhandel, der jahrzehntelang die Haupteinkaufsquelle für Büchereien war – und mit seinem Gewerbesteueraufkommen direkt die Etats der Städte und Gemeinden mit Liquidität ausstattete. Doch mittlerweile trägt die öffentliche Hand durch ihre Einkaufspolitik zur Verflachung der Literatur bei. Die – nicht nur von KMK - geforderte Beratung ist allem Anschein nach der Diktatur des ungeschulten Geschmacks gewichen.

Foto:
KNV-Logistik in Erfurt
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