Das grosse Umfragen- und Spekulationsfinale vor den vorgezogenen Wahlen in Israel
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Außer den professionellen «Machern» werden wohl nur wenige Israeli von der Ankündigung enttäuscht oder besorgt sein, dass in knapp einer Woche der ganze Spuk beendet sein wird. Begriffe wie Meinungsumfragen, Fake News, Mindestklauseln, Wahlsieger oder -verlierer werden dann ganz tief in den vorbereiteten Mottenkisten der israelischen Innenpolitik verstaut sein. Im Idealfall für über vier Jahre, wenn die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen sein werden, die 22. Knesset zu bestellen. Doch sogar wenn die parlamentarischen Unzulänglichkeiten des Staates erneut zuschlagen und ein weiteres Mal für vorgezogene Wahlen sorgen sollten – die wohlverdiente Ruhepause von ein paar Monaten oder sogar ein paar Jahren können sie dem Volk nicht nehmen.
Nach den Wahlen
Da im Nahen Osten aber nichts beständiger ist als der Wandel, wollen wir das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Rein theoretisch könnte natürlich nach den Wahlen vom 9. April der Fall eintreten, dass keine der von Staatspräsident Rivlin mit der Regierungsbildung beauftragten Parteien das Werk vollendet und das Mandat zurückgeben muss. Dann wäre es rein theoretisch denkbar, dass das Land in ein paar Monaten zur Wiederholung des ganzen Theaters aufgerufen wird: Wahlkampagnen, verbunden mit gegenseitigen Anschwärzungen und Beschuldigungen. Irgendwann im Sommer oder auch erst im Herbst kommt es dann als Höhepunkt des Mummenschanzes zu erneuten Knessetwahlen. Und zwar ohne Rücksicht auf Hunderte Millionen Schekel, die da ganz unproduktiv verschwendet würden. Das nennt man dann hochtrabend den Preis der Demokratie, den es zu zahlen gelte.
Klare Verhältnisse schaffen
Bevor es aber so weit ist, haben Wähler, Parteien und Kandidaten noch ein paar Tage Zeit, um sich die Wunden zu lecken, die ihnen bekannte oder anonyme Feinde im zu Ende gehenden Wahlkampf zugefügt haben mögen. Am 9. April können sie dann mit einem einigermassen vernünftigen Verhalten klare Verhältnisse schaffen. In diesem Fall würde das heissen, dass in wenigen Wochen eine lebens- und arbeitsfähige Koalitionsregierung die Arbeit in Angriff nehmen wird, um die sie wahrlich niemand beneidet.
Beeinflussung der Wahlen?
In den letzten Tagen vor dem kommenden Dienstag versuchen logischerweise alle, die Rang und Namen haben im inzwischen frenetisch gewordenen Wahlkampf, noch die allerletzten Punkte zu gewinnen beziehungsweise diese den Gegnern zu entreissen. Für kurzfristige Panik sorgten dabei Meldungen von einem Netzwerk hunderter von Konten auf sozialen Medien, die rund um die Uhr damit beschäftigt sein sollen, Premier Binyamin Netanyahus Wiederwahl zu fördern und seine Gegner noch rasch vor Torschluss gehörig anzuschwärzen. Zusätzliches Gewicht erhielten diese Meldungen durch die Tatsache, dass die anfänglichen Berichte in der Sache nicht nur vom israelischen Massenblatt «Yediot Achronot» verbreitet worden sind, sondern auch von der allgemein immer noch als seriös geltenden «New York Times» (NYT). Laut der NYT soll dabei der Bericht der sogenannten Wachhund-Gruppe Big Bots Project mit Hilfe der Israel Alliance geschrieben worden sein. Dabei soll es sich um eine sich liberal gebende Organisation handeln. Die NYT räumte zwar ein, dass es keine direkten Links gebe zwischen dem Netzwerk und Netanyahu oder seiner Likud-Partei. Anscheinend aber werden die Konti in Koordination mit der Likud-Wahlkampagne betrieben. Der Bericht gelangte dabei zum Schluss, das Netzwerk habe einen Grossteil seiner Aktivitäten darauf verwendet, Netanyahus Hauptkonkurrenten Benny Gantz schlechtzumachen. Angesichts der offensichtlichen Animositäten zwischen den beiden zentralen Kandidaten verwundert das niemanden. Ebensowenig wie die Vehemenz, mit der der Likud die Existenz eines solchen Netzwerks in Abrede stellt.
Umfragen und Szenarien
Kurz vor Torschluss durften natürlich die obligaten Meinungsumfragen nicht fehlen. Beschränken wir uns hier auf diejenige des israelischen TV-Kanals 13 vom Dienstagabend. Wären die Wahlen damals abgehalten worden, hätte der Likud die Partei Blauweiss mit Benny Gantz an der Spitze mit 29 Mandaten um einen Sitz übertroffen. Aus Kreisen von Blauweiss heisst es dazu, die Partei könnte zwei bis drei Sitze mehr erringen, sollte Yair Lapid auf das Rotationsabkommen mit Gantz verzichten. Vorderhand will der Chef der ehemaligen Zukunftspartei davon jedoch nichts wissen. Überrascht hat in der Umfrage die Arbeitspartei (IAP), die gegenüber früheren Erhebungen mit 14 Sitzen gleich vier Mandate zulegen konnte. Gleich hinter der IAP folgt die rechtsextreme Union rechtsgerichteter Parteien mit sieben Mandaten. Auf diese hofft Netanyahu schwer bei allfälligen Koalitionsverhandlungen. Moshe Feiglin, der insgeheim bereits als das Zünglein an der Waage und «Königsmacher» gehandelt wird, bekäme mit seiner Identitäts-Partei sechs Sitze, gleich viel wie die arabische Hadash-Taal und das charedische Vereinigte Thorajudentum. Ein Mandat weniger – enttäuschende fünf Sitze – würde die Neue Rechte der Minister Bennett und Ayelet Shaked bekommen, gleich viel wie Shas, die linksliberale Meretz und die Vereinigte Arabische Liste Balad. Finanzminister Kahlons Kulanu-Partei hingegen bekundet Mühe, den Eintritt in die Knesset noch zu schaffen, und müsste sich mit vier Sitzen begnügen.
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Am Dienstag werden Bürgerinnen und Bürger Israels aufgerufen sein, die 22. Knesset zu bestellen
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. April 2019
Rund um die Uhr berichtet tachles online über die Entwicklungen und Hochrechnungen sowie die Resultate der Wahlen auf www.tachles.ch