Hanswerner Kruse
Schlüchtern (weltexpresso) - Am 4. Juli werden in Schlüchtern erstmalig sechs Stolpersteine für die aus der Krämerstraße 16 (heute Café Wohnzimmer) vertriebene oder verschleppte und ermordete Familie Goldschmidt verlegt. Niemand in unserer Stadt erinnert sich an diese Menschen oder kennt sie noch. Das ist das Schlimmste, was ihnen zusätzlich angetan wurde: ihr Leid ist verdrängt und vergessen. Diese Stolpersteine sollen - beispielhaft - Erinnerungen an jüdische Mitbürger wecken und die Verbindung zu ihnen wiederherstellen.
Vor einiger Zeit wandten sich die in den USA lebenden Enkelinnen der Goldschmidts über einige Umwege an die Schlüchterner Stadt-Verwaltung und baten um Verlegung von Stolpersteinen für ihre Verwandten. Nach anfangs heftigen Diskussionen stimmten Magistrat und Stadtverordnete einhellig zu. Abteilungsleiterin Kerstin Baier-Hildebrand wurde offiziell mit dem Projekt beauftragt.Darüberhinaus engagiert sie sich auch stark als Vorsitzende des Geschichtsvereins - meist außerhalb der Arbeitszeit - und bildete eine kleine Unterstützergruppe.
Die immensen Schwierigkeiten ihrer „Herzensangelegenheit“ konnte sie zunächst kaum abschätzen, etwa wo genau haben die Goldschmids gewohnt? Schlüchterner Straßenzüge wurden verändert und umbenannt, Hausnummern änderten sich. Ehemalige Nachbarn gibt es ebenso wenig wie Aufzeichnungen und Unterlagen über die Familie. Das Memorbuch der Synagoge ist verloren gegangen, in dem Erinnerungen an Verstorbene der Gemeinde festgehalten wurden (Tod, Ursachen, Datum). Mühselig fand Baier-Hildebrand über einen Bauantrag im Stadtarchiv wenigstens heraus, dass Juda Goldschmids Vater ein Schuster war. Nach langem Suchen entdeckte sie im Standesamt eine Notiz über den Tod seiner Mutter Rebecka im Jahr 1941, der mit Sicherheit eine Folge von Drangsalierung und Gewalt war.
Nach den napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten es die Juden - auch in Schlüchtern - zu gesellschaftlicher Anerkennung, politischen Ämtern und einem gewissen Wohlstand gebracht. Das Zusammenleben christlicher, meist evangelischer und jüdischer Bürger im Bergwinkel war unkompliziert.
„Wir waren völlig assimiliert, wir waren zuerst Deutsche und unsere Religion war eben jüdisch. Den Begriff Juden als Rasse hat dann erst Hitler hervorgebracht (...). Erst im Jahr 1933 sind wir die Aussätzigen geworden und Schlüchtern hat sich darin hervorgetan!“
(Auszug aus einem Brief der Schlüchtenerin Ursula Schwarz, die 1938 nach Palästina emigrierte)
Lilly und Juda Goldschmidt wurden aus der Krämerstraße 16 verschleppt und im KZ ermordet
Sofort nach der Machtergreifung der Nazis 1933, postierten sich SA-Schlägertrupps vor jüdischen Geschäften und hinderten gewaltsam Leute daran dort einzukaufen. Immer wieder misshandelten sie jüdische Menschen und schüchterten auch nichtsemitische Bürger ein. Viele der 320 Schlüchterner Juden (von 3200 Einwohnern) flohen bereits in dieser Zeit, spätestens nach der Reichspogromnacht 1938: Systematisch wurden in Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte überfallen und weitgehend zerstört. Vier Jahre lang hielten es die wenigen übrig gebliebenen Juden, darunter auch die Goldschmidts, noch im Bergwinkel aus, bis sie verschleppt und ermordet wurden. Vorher gelang es ihnen 1939 wenigstens, ihre zwei Kinder Fränze Lore und Siegfried Herbert mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen. Deren Kinder Linde Mason Waltroup und Judy Mason Benedict bemühten sich um die Stolpersteine, sie werden am 12. Juli Schlüchtern besuchen.
Info:
Öffentliche Verlegung der Stolpersteine am Donnerstag, dem 4. Juli 2019, um 17.30 Uhr, vor dem Haus Krämerstraße 16 (Café Wohnzimmer). Es sprechen Erster Stadtrat Reinhold Baier, Künstler Gunter Demnig und Projektleiterin Kerstin Baier-Hildebrand. Ein Rabbiner wird kommen. Es gibt Klezmer-Musik und Schüler tragen Gedichte vor. Zum Termin erscheint eine Broschüre, die sich mit der Terrorisierung und Vertreibung jüdischer Mitbürger im Bergwinkel befasst.
Eine historische Aufnahme der Krämerstraße um 1900 mit Blick in Richtung Rathaus. Rechts sieht man die Kreuzung zur Weitzelstraße. Das Gebäude der Goldschmidts müsste sich auf der linken Seite befinden.
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privat / Stolpersteine kostenlos von pixabay