Wie ich den Untergang des Großdeutschen Reiches erlebte
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – An welchem Tag unsere Ausbildung zu Ende ging und wir an die Front geschickt wurden, weiß ich nicht mehr. Die Linden in Berlin hatten jedenfalls frische grüne Blätter. Die Front, das war für uns der Flughafen Tempelhof. In einem der Keller des weitläufigen hufeisenförmigen Gebäudes bauten wir unsere Funkstation auf.
Hier sortierte ich zwischendurch die Briefe meines Vaters. Die brisanten steckte ich in die Brusttasche, alle anderen verbrannte ich. Als am Rande des Flugfeldes sowjetische Panzer auftauchten, bauten wir unsere Geräte ab und schleppten sie fortan mit uns herum. Ziellos stolperten wir damit durch unbeleuchtete S-Bahn- und U-Bahn-Schächte, über uns das Wummern einschlagender Granaten. Unser Truppführer verschwand eines Tages auf Nimmerwiedersehen.
Als wir den Tiergarten durchquerten, wurde unser Akku zwischen unsere Beine hindurch von einer Gewehrkugel getroffen und die Säure lief in dünnem Strahl aus der schweren Bleibatterie. Damit waren wir sie los. Den Sender verstauten wir in einen Kombi, dessen Fahrer uns zum Glück nicht mitnahm. Sein Fahrzeug wurde wenige Minuten später durch einen Volltreffer zerstört.
Ein scheinbar unbedeutendes Bild hat sich mir auf immer eingeprägt. Unbeachtet, wie ein weggeworfener Gegenstand, lag ein toter deutscher Soldat mit dem Gesicht nach unten im Rinnstein. Ich war schockiert. Bis auf die angeschwemmte Wasserleiche, die Ossi und ich nach einem Hochwasser auf der Suche nach leeren Blechbüchsen in der Aupa entdeckten, hatte ich noch nie einen toten Menschen gesehen.
Was hatte der Krieg aus den Menschen gemacht, dass sich niemand um den toten Soldaten kümmerte? Ich selbst war allerdings nach wenigen Tagen so verroht, dass ich bedenkenlos über Leichen stieg, deren warme Körper dem Druck meiner Stiefel wie ein Schwamm nachgaben. Als Kind habe ich einmal während der Kartoffelernte eine Maus totgetreten. Wenn ich daran dachte, bekam ich eine Gänsehaut. Jetzt trat ich auf Menschen und dachte mir nichts dabei.
Irgendwann strandete unser Häuflein in Spandau, wo Soldaten und Zivilisten vergeblich versuchten, aus dem eingekesselten Berlin über die Havel Richtung Westen zu entkommen. Die letzte Brücke war durch zerschossene Fahrzeuge unpassierbar geworden. Dort verloren wir uns auch endgültig aus den Augen. Zermürbt vom Geheul der Stalinorgeln suchte ich Zuflucht in einem Luftschutzkeller. Eingekeilt zwischen Männern, Frauen und Kindern setzte ich mich auf meine Gasmaskenbüchse und schlief sofort ein.
Geblendet von der Sonne stand ich am nächsten Morgen unvermittelt einem sowjetischen Soldaten gegenüber. Er hielt seine Kalaschnikow vor der Brust und sah müde aus. Sein Käppi hing schief auf dem Kopf und der zerfranste lange Militärmantel schlotterte ihm um die Beine. Auf seinem Rücken baumelte, von Schnüren gehalten, ein kleiner Sack. Neben mir fing ein Soldat in Luftwaffenuniform an zu schluchzen, überwältigt anscheinend von der Gewissheit, zu denen Geschlagenen eines frevelhaft vom Zaun gebrochenen Krieges zu gehören. Ich selbst stand da wie betäubt, fühlte mich aber erleichtert.
Ich hatte überlebt und reihte mich in die immer länger werdende Kolonne von Kriegsgefangenen ein, die langsam durch die menschenleeren Straßen zog, flankiert von Rotarmisten und vorbei an sowjetischen Militärfahrzeugen, die zur Feier des 1. Mai mit roten Transparenten geschmückt waren. Am 2. Mai hatte meine Mutter Geburtstag. Bei dem Gedanken an sie packte mich Heimweh und die Vorstellung, möglicherweise Jahre in einem Gefangenenlager verbringen zu müssen, schnürte mir die Kehle zu.
Dass die Nazipropaganda in jenen Tagen die Nachricht verbreitete, Adolf Hitler sei „in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend für Deutschland gefallen“, erfuhr ich erst später. In Wirklichkeit hatte er sich der Verantwortung für seine Verbrechen durch Selbstmord entzogen.
SCHLUSS FOLGT
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Aus Chronik des Jahrhunderts
Info:
Die bisherigen Teile der fünfteiligen Serie
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