Bildschirmfoto 2019 09 28 um 01.15.52Interview mit Gabriel Strenger auf dem Hintergrund seinen Buches DIE KUNST DES BETENS über den Chassidismus

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Gabriel Strenger formuliert in seinem neuen Buch «Die Kunst des Betens» einen neuen Zugang zum Gebet und plädiert für ein neues Verständnis des Chassidismus.

tachles: Die «Kunst des Betens» referiert auf Erich Fromms «Die Kunst des Liebens». Fromm spielt eine wichtige Rolle in Ihrem Denken. Ist Beten Liebe?

Gabriel Strenger: Ohne Liebe geht's auf jeden Fall nicht. Beten ist mehr, als Texte lesen.


Spiritualität» ist ein wichtiger Zugang zum Verständnis Ihres Zugangs zum Judentum. Eine eher chassidische Tradition.


Ja. Meine Quellen dafür liegen in der chassidischen Literatur, allerdings nicht in den Ge­­schichten Bubers, mit denen er Chassidismus popularisiert hat. Mir geht es vor allem um die chassidische Hermeneutik, welche es aber auf Deutsch gar nicht gibt, sondern nur auf Iwrit.


Und worauf basiert Ihr Chassidismus?

Eigentlich habe ich osteuropäische Wurzeln; ich hatte drei galizische Grosselternteile; der Vater meiner Mutter war ein Chassid. Nach Jahren habe ich mich an das erinnert, was ich als Kind unbewusst aufgenommen hatte, nämlich das Bild, wie ich oft mit meinem Grossvater fünf, sechs Stunden zu Fuss durch Antwerpen promenierte, während wir diskutierten und mein Grossvater den chassidischen Kommentar zur Thora «Sefat Emet» unter dem Arm hielt.


In Ihrem Buch versuchen Sie also, wieder an diese Tradition anzuknüpfen. Warum?

Da bin ich nicht der Einzige. Ich zähle mich zu einer relativ kleinen Gruppe, die sich neochassidisch nennt; modern-orthodoxe Leute mit Allgemeinbildung, einer guten Prise Existenzialismus und viel Studium des Chassidismus. Unser Merkmal ist, dass wir zu den chassidischen Wurzeln zurückfinden wollen – also nicht zu dem, was heute in chassidischen Kreisen vorhanden ist. Wir unterscheiden uns von ihnen insofern, als wir nicht ein Verhältnis zu einem Rabbi pflegen und gegenüber der Moderne, der Wissenschaft und Philosophie total offen sind. «Chessed» heisst Liebe, und ein Chassid ist jemand, der sich Gott in Liebe annähert und für den eine Herzensbeziehung zum Göttlichen im Mittelpunkt steht. Dies ist eigentlich Spiritualität im theistischen Kontext.

Das würde dann dem Begründer des Chassi­dismus Baal Schem Tov entsprechen, der das ­praktizierte und die Spiritualität nach der ­orientalischen Mystik in den Osten brachte.
Persönlich bringe ich Chassidismus mit orientalischer Meditationspraxis zusammen, und in meinen Seminaren erläutere ich immer, dass meine Methode der Meditation aus dem Buddhismus stammt, während die Inhalte mehr jüdisch sind. Beim Lesen von kabbalistischen Texten gehe ich davon aus, dass deren Verfasser eine ausgeprägte Meditationstechnik hatten. Diese überlieferten sie aber nicht, sondern lediglich die Erkenntnis­se, die sie in der meditativen Versenkung gefunden hatten. Deshalb bin ich dankbar, dass ich von den Fernöstlichen viel übernehmen konnte.


Das Meditative ist im Judentum bis auf ein paar sephardische Bewegungen eher etwas Fremdes.

Für mich ist der Chassidismus die gelungenste Erneuerungsbewegung, die das Judentum je erlebte, eine Erneuerung aus einem ziemlich ­verknöcherten, kopflastigen Judentum, bei dem zwischen Rabbiner und Volk eine riesige Distanz herrschte. Der Chassidismus ist aber kein Bruch, sondern eine ganz wichtige Weiterführung des rabbinischen Judentums; sie bezieht sich darauf und auf die Kabbala. Für mich ist der Chassidismus heute das zentrale Herz des Judentums, das praktisch alle Strömungen im Judentum enorm beeinflusst – bewusst oder unbewusst. Er ist spirituell noch immer unglaublich lebendig.


Beten ist zuerst mal eine verordnete Angelegenheit. In Ihrem Buch machen Sie daraus eine Kunst. Wie funktioniert das?

Mit einer gewissen Lebenserfahrung weiss man, dass man auch bei verordneten Dingen selbst entscheiden muss, ob man sie tut oder nicht. Ich habe für mich verstanden, dass das tägliche Beten eine spirituelle Praxis ist, um gewisse innere Prozesse zu fördern, die für mich gut sind und mich weiterbringen – ähnlich wie eine tägliche Yoga- oder Meditationspraxis. Die Kunst dabei besteht aus der kreativen Verbindung der Verordnung mit gewissen spirituellen Prozessen.


Der Mensch hat ja verschiedene Möglichkeiten, um sich in spirituelle Sphären zu begeben. Weshalb braucht es da Gott?

Gott ist das spirituelle Potenzial, das wir alle an­­streben, aber nie ganz erreichen können. Er ist das, von dem ich hoffe, dass sich die ganze Welt zu ihm hin entwickelt. Ich sehe ihn aber nicht nur als Idee, sondern als eine Realität, mit der wir uns verbinden können – auch wenn wir noch nicht am Ziel sind.


Wo geben Sie in Ihrem Buch dem Gläubigen etwas, das er sonst nicht hat?

Ich versuche, den Betenden darauf hinzuweisen, dass es im Gebet sowohl in der Struktur wie im Inhalt eine Tiefendimension gibt, die er bisher nicht bemerkt hat. Sie wird von der Kabbala und vom Chassidismus aufgedeckt. Wenn man sich das bewusst macht, kann man im bisher praktizierten Gebet ganz neue Erfahrungen machen.


In der Exegese kann man dem Leser immer eine Tiefe eines Textes vermitteln, zu der er selbst keinen Zugang hat. Und die Tefila ist ja als solche keine göttliche Sache.

Jein ... Ich gehe – wie es in der Gemara steht – davon aus, dass die Gründer und Entwickler des rabbinischen Judentums sich in einer tiefen Be­­ziehung zu Gott und auf einem bewussten Weg befanden und dadurch eine gewisse mystische, spirituelle, göttliche Inspiration auch beim Verfassen dieser Gebete vorhanden war.


Sie schlagen allerdings keine Veränderungen daran vor; Ablauf und Gebete im herkömmlichen Sinn sind wichtig. Weshalb kein Versuch einer Reform?

Dazu braucht es mich nicht – die Reform hat das doch schon getan, im Gegensatz zum Chassidismus, der die Form fast nicht veränderte.


Aber mit Ihrem Buch möchten Sie doch den «routinierten» Gläubigen neue Inhalte näherbringen und neue Gläubige ansprechen.

Ja, aber mir geht es in erster Linie darum, zu ­zeigen, dass man mit dem guten alten Gebet ganz anders «davenen» kann. Wenn dadurch neue Leute sich angesprochen fühlen, umso ­besser.


Geht es Ihnen nicht auch darum, Ihre eigene ­spirituelle Erfahrung mit anderen zu teilen?

Ich habe schon sehr lange meine eigene innerjüdische Agenda, bin in Israel auf ganz verschiedene Arten sehr aktiv, auch in ultraorthodoxen Kreisen. Ja, mir geht es um eine spirituelle Erneuerung des Judentums, zu zeigen, dass die Halacha nicht einfach eine Pflicht ist, sondern ein Mittel zu einem Zweck.


Erneuern kann man die Halacha ja, nicht aber sie verändern.

Für mich als religiöser Zionist ist die grosse Aufgabe des Zionismus heute die Erneuerung, auch die halachische. Allerdings nicht so, wie es die Reform tat, sondern auf andere Art. Beispielsweise könnte man in der Tefila gewisse Sachen kürzen und gewisse neue Texte hereinnehmen. Aber diesbezüglich warte ich auf eine rabbinische Führerschaft in Israel, die den Mut dazu aufbringt, und auch diesbezüglich bin ich aktiv. Ich bin überzeugt, dass es geschehen wird.


Mit Ihrem Buch regen Sie dazu an, dass man die Gebetstexte hinterfragt und auch versteht und nicht einfach das Auswendiggelernte herunterleiert.

Das ist meines Erachtens wesentlich. Wer diesen Schritt nicht macht, hat wohl die Hauptsache verpasst.


Welche anderen signifikanten Unterschiede entste­hen für jenen, der Ihr Buch liest und anwendet?

Beispielsweise ordne ich das ganze Gebet in eine jüdisch-mystische Welt- und Seelensicht – ein Modell, das eigentlich von der Sefirot-Lehre kommt, das ich im Buch aber sehr vereinfacht darstelle.


Ihr Denken ist stark auch von Friedrich Weinreb geprägt, einem komplexen Denker. Wie viel von ihm ist in Ihrem Buch drin?

Weniger als im vorherigen Buch. Das neue beruht mehr auf «Sefat Emet» als auf Weinreb. Letzterer ist für mich ein chassidischer Interpret der Kabbala. Aber inzwischen habe ich andere chassidische Zugänge gefunden, die mir genauso wichtig sind wie Weinreb, der vor zehn Jahren für mich im Mittelpunkt stand.


Wie würden Sie «Sefat Emet» heute einordnen?

Eine grosse Frage ... Rabbi Jehuda Lejb Alter, der Verfasser des Thora-Kommentars «Sefat Emet», lebte im 19. Jahrhundert in einem Kaff in Polen, und mir ist nicht klar, ob er überhaupt wusste, dass es parallel zu ihm in Wien Sigmund Freud gab, ob er sich der deutschen Romantik mit ­Goethe, Schiller und so weiter bewusst war. Aber er war ein unglaublich moderner, teilweise so­­gar postmoderner Denker. Mir ist es unverständlich, wie ein ultraorthodoxer Rabbiner, der vor allem Thora gelernt hatte, diese immens fortschrittlichen Gedanken haben und sie niederschreiben konnte – wenn sie auch schwer zu verstehen sind.


Was ist genau die Hermeneutik für Sie im Verhältnis zum Chassidismus?

Im Chassidismus ist jener Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Starre und der intellektuellen und spirituellen riesigen Offenheit, die es in den Büchern bis heute gibt, wirklich tragisch. Es ist ein Widerspruch in sich selbst, der aus historischen Gründen – wegen der Schoah und auch aus Angst vor der Reform – besteht. Dabei gibt es in der Hermeneutik mit der besonderen, kreativen und tiefen Art und Weise der Thora-Auslegung eine unglaubliche Freiheit und absolut grandiose existenzielle Einsichten. Gerade «Sefat Emet» überzeugt mich immer wieder, dass das vielleicht die ursprüngliche Bedeutung des Textes gewesen sein könnte.


Bestand im Chassidismus aber nicht immer die Gefahr zum Messianismus, zum Sektiererischen?

Das ist richtig. Wenn man «Sefat Emet» liest, merkt man, wie die alten, bekannten Texte plötzlich aufgebrochen werden und etwas durchkommt, das die tiefsten Sehnsüchte der Seele anspricht. Das kann einen mit einem mystischen Licht erfüllen und so enthusiastisch machen, dass unstabile Persönlichkeiten durchaus messianische Fantasien entwickeln und den Bezug zur Re­­alität verlieren können.


Und wie können Sie selbst als Leser der kabba­listischen Werke bei dieser brachialen Konfrontation mit der Seelenwelt die Bodenhaftung behalten?

Man kann das, indem man sich selbst immer wieder in Frage stellt, immer wieder den Bezug zur Realität sucht und unterscheidet zwischen Ego, Narzissmus und wirklichen spirituellen Werten. Und indem man auch physisch aktiv ist, Sport betreibt, Yoga oder Meditation macht – also den Körper nicht vergisst. Denn der ist es, der für die Bodenhaftung sorgt.


Den Schritt, zu schreiben, dass die Kunst des Betens auch sein könnte, es nur zu tun, wenn man sich danach fühlt, haben Sie aber nicht getan.

Ich kenne keine spirituelle Praxis, die funktioniert, wenn man sie nur ausübt, wenn man sich danach fühlt. Diesbezüglich stehe ich völlig hinter der Halacha – die Idee, etwas täglich zu tun, ist für eine spirituelle Praxis absolut entscheidend. Das zählt auch für Yoga, Meditation, und so fort: Wenn ich es nur tue, wenn ich mich danach fühle, tue ich es nie, und eine Psychoanalyse, zu der ich nur alle drei Wochen einmal gehe, bringt nichts.


Ihr Buch hat ja auch viel mit Ihrem Beruf als Psychologe zu tun, sprich, es ist ein psychologischer Zugang zum Gebet.

Ja, das stimmt. Psychologisch ist es, weil ich seit Jahren einen Weg gehe, bei dem ich versuche, die verschiedenen Selbst-Anteile in mir selbst zu­­sammenzubringen. Ich bin ein Basler, habe eine humanistische Erziehung genossen, danach ein französisches Baccalaureate mit viel französischer Philosophie gemacht, dann die Jeschiwa in Israel, das Philosophie- und Psychologiestudium an der Bar-Ilan-Universität und das Psychoanalytische Institut – das bin alles ich, samt meinem orthodoxen Hintergrund. Alle meine Bücher sind insofern eine Art Selbsttherapie, bei der ich versuche, eine Synthese zu finden. Denn all diese Welten haben auch Gegensätze, bringen mich manchmal in kognitive Dissonanzen. Aber ich merke auch immer stärker, dass sich hier synergisch etwas zusammentut, das mir persönlich sehr, sehr viel bringt und an dem auch andere Menschen Gefallen finden könnten.


Braucht es – in diesem Sinne – überhaupt einen Glauben, um das zu praktizieren, was Sie in Ihren Büchern vorschlagen?

Ich lasse in all meinen Büchern offen, was Gott ist – das grosse Mysterium in uns selbst und in der Welt. Das ist etwas sehr Persönliches, und ich glaube, dass dabei der Unterschied zwischen «weltlich» und «religiös» gar nicht klar ist. Ich kenne Atheisten, die ich als religiös, und solche, die sich orthodox nennen, die ich als unreligiös empfinde.


Ist nicht der Chassidismus, der sich immer wieder auf Gott bezieht, eigentlich eine agnostische Bewegung?

Eine interessante Frage. Ob eine agnostische Bewegung, weiss ich nicht – aber auf keinen Fall ist es eine dogmatische. Es gibt bei uns keinen Katechismus, der uns vorschreibt, was wir glauben müssen. Bei genauer Lektüre chassidischer Texte merkt man, dass es weniger um Metaphysik geht, sondern um die Frage, ob man passiv darauf warten soll, dass Gott etwas tut, oder ob er vor allem durch den Menschen wirkt. Damit ist es eigentlich die Verantwortung des Menschen, das Göttliche in die Welt zu bringen. Das ist mir absolut wichtig, und dies sind Gedanken, die im Chassidismus sehr, sehr stark zu finden sind.


Also kann das Göttliche in die Welt zu bringen auch heissen, das Menschliche in die Welt zu bringen?

Absolut, ja, das Menschliche in seinen höchsten Ausprägungen.


Wo stehen wir heute im Gesamtbild mit der Erneuerung oder Veränderung der Jüdischkeit?

Ich sehe die grosse Zukunft des Judentums in Israel, wobei ich nicht glaube, dass es nicht immer ein wichtiges Diaspora-Judentum und eine wichtige Exil-Erfahrung geben wird. Wenn ich jetzt mit Ihnen in Basel sitze und die Ruhe um mich herum wahrnehme, ist es schon sehr bedrückend, was in Israel zuweilen vor sich geht – etwa in den Wochen vor den Wahlen oder im Konflikt mit Iran. Aber mir liegt an der Thora und ihrer Ideen- und Gedankenwelt, und ich glaube, dass die Fortsetzung ihres spirituellen Stromes in Israel geschehen wird. Ich vertraue, dass dort noch ganz wichtige Entwicklungen geschehen werden.

Foto:
Für Gabriel Strenger ist der Chassidismus die gelungenste Erneuerungsbewegung, die das Judentum je erlebt hat
© tachles

Info:
Gabriel Strenger: Die Kunst des Betens, 
Morascha Verlag, Basel 2019
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 26. September 2019