Was einem anläßlich des erstmaligen Besuchs (?) Angela Merkels in Auschwitz durch den Kopf geht, Teil 3/3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Bewußtsein der breiten Bevölkerung änderte sich, was die Haltung zu den mörderischen Grausamkeiten der Nazi-Diktatur angeht, tatsächlich erst ab 1979 gefühlsmäßig Grundlegendes - und das muß man wirklich herausstellen, damit es ins kulturelle Gedächtnis der Deutschen übergeht - durch die aus den USA importierten Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss. In ihr wurde im Januar 1979 in Spielfilmmanier – heute kennen wir das vielfach, aber für damals war es neu – das Schicksal einer jüdischen Arztfamilie aus Berlin zu Zeiten des Nationalsozialismus wiedergegeben, mit all den Emotionen, die man spürt, wenn es um konkrete Menschen geht.
Diese fiktive Geschichte auf dem Bildschirm zu erleben, wirkte auf ein breites Fernsehpublikum tiefer als alle vorherige Aufklärung durch Wort und Bild und führte erstmals gesamtgesellschaftlich zu einer tiefergehenden Diskussion und auch Abrechnung mit der verbrecherischen Vergangenheit. Auch der Begriff HOLOCAUST ist erst seit damals in deutschen Sprachgebrauch übergegangen. Daß dies erst eine vierteilige Fernsehserie zuwegebrachte, darüber muß man heute nicht räsonieren, sondern froh sein, daß wenigstens so spät viele Menschen ein echtes Gefühl für das bodenlose Unrecht, für die mörderischen Verbrechen in deutschem Namen entwickelten.
Es gab danach noch andere Sendungen, es gab SCHINDLERS LISTE, den HITLERJUNGEN SALOMON, Filme, die nun auf einmal viele Zuschauer fanden, auf die nach 1945 Atze Brauner noch warten mußte, als er 1948 mit »Morituri – Die Todgeweihten« losgelegt hatte, aber keine Resonanz im Publikum fand und immer seichte Filme als Geldmaschinerie brauchte, damit er ernsthafte, die Hitlerdiktatur analysierende Filme finanzieren konnte, die immer einen gewaltigen finanziellen Verlust bedeuteten. Als er darauf in einem Interview der Stuttgarter Zeitung vom 4. Januar 2013 angesprochen wurde „ Wie konnten Sie 1946 nach Deutschland gehen, nachdem Sie das alles erlebt hatten?“, antwortete er: „Einige Tage vor Kriegsende hat die SS es nicht mehr geschafft, ein Massengrab zu scharren mit Hunderten von Opfern, und ich bin vorbeigezogen und hab hingeschaut. Ich war damals erschüttert, ich wusste nicht, ob ich sehe, ob ich träume, aber ich wusste, es ist die Wahrheit. Und da waren die Augen eines zehn- oder zwölfjährigen Jungen. Offene Augen, sie haben mich angeschaut. Tote Augen, ja? Diese Augen habe ich nie vergessen. Sie zeigten das Verlangen, nicht vergessen zu werden. Die einzige Möglichkeit war, Antinazifilme oder Filme aus dieser Zeit zu drehen. Ich habe 23 solcher Filme gemacht mit 13 Millionen Euro Verlust.“
Auf dem Weg der rationalen Aufklärung und der Gefühle gegenüber den Verbrechen der Eltern- und Großelterngeneration, ist ganz wesentlich auch die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard Weizsäcker vom 8. Mai 1985, in der er diesen Tag des Jahres 1945 zum ersten Mal offiziell als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnet hatte. Seine Rede war eingebettet in die damalige Friedensdiskussion in der Bundesrepublik, wo allein zum 40 Jahre Jubiläum des Endes des Zweiten Weltkriegs in Frankfurt auf dem damals noch unbebauten Römerberg – unbebaut, weil die vorherige Fachwerkbebauung im Krieg durch Bomben zerstört worden war - 40 000 Menschen gekommen waren und skandierten: NIE WIEDER.
Wir können nicht alle Stationen dieser Aufarbeitung aufführen, sondern wollen nur den Prozeß beschreiben. Denn, nachdem die Verbrechen der Nazis öffentlich als solche gekennzeichnet waren, entstanden viele Initiativen, die nun lokal nach den Stätten der Erniedrigung, der Verknechtung, der Folterungen, auch der Ermordungen suchten, sie fanden und an Ort und Stelle zumindest durch die Thematisierung Wiedergutmachen, die natürlich nicht möglich ist, anzustreben. Ziel war dabei immer, daß so etwas, ein solcher Haß auf Menschen und dessen Entladung im Aussondern und Ermorden nie vergessen werde und nie wieder passiere.
Nachdem diese Phase also den lokalen und regionalen Verbrechen galt, deren Stätten seither als Mahnmale künden, und die durch die wunderbare Idee des Künstlers Gunter Demnig, jedem einzelnen ein Denkmal zu setzen, verbreitert wurden, der seit 1992 Stolpersteine in den Boden verlegt, wo Juden und andere Verfolgte von den Nazis geholt, deportiert, meist ermordet wurden, hat sich die öffentliche Diskussion wieder auf die Gesamtverantwortung der Deutschen gerichtet und nach und nach ist Auschwitz als das Todeslager, das am weitesten östlich lag und mit über einer Million vergaster Menschen die meisten Opfer aufweist , fast so etwas wie ein Synonym für Schuld und Schande der Deutschen geworden. Nicht zufällig, denn es hatte ja schon der nach Frankfurt zurückgekommene Frankfurter Philosoph Theodor W. Adorno 1949 formuliert: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“.
Daß auch das Umgekehrte gilt, paßt in seine Dialektik. 1966 legte Adorno darum nach: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“ Auschwitz ist längst das Synonym für das Grauen geworden. Denn inzwischen gilt für die vielen Romane, Tatsachenberichte, für Theaterstücke, für Opern, die im Nationalsozialismus spielen, daß sie gehäuft von Auschwitz handeln, auch wenn es so viele andere Lager gab.
Hinzu kommen weitere Filme wie der sagenhafte Film DIE ATEMPAUSE nach dem Bericht von Primo Levi, über dessen Aufführung in Frankfurt am 29. November 2015 wir so begannen: „Unter den aus dem Konzentrationslager Auschwitz - von den Russen am 27. Januar 1945 befreit - strömenden Gefangenen sehen wir Primo Levi (John Turturro), der etwas streng und mit Brille glaubwürdig den zurückhaltenden Naturwissenschaftler gibt, aus dessen Perspektive wir nun wie in einer Versuchsanordnung das Chaos erleben, das die Befreiung durch die Russen erst einmal mit sich bringt.“ Ein umwerfender Film, der in jeder deutschen Schule Pflicht sein sollte, weil er mit der Rettung des Auschwitzhäftlings Primo Levi und seinem Marsch vom durch die Sowjetarmee befreiten Auschwitz bis nach Italien ein herrliches Stück Komik in die düstere Geschichte einflicht. Denn auch für das Kino gilt, daß man manches Stück Aufklärung besser erträgt, williger zuhört und zuschaut, wenn nicht die Moralkeule formal geschwungen wird, sondern Menschen agieren, die dem Zuschauer auf emotionale Weise verdeutlichen, was Ausgrenzung, Verfolgung und Mord bedeuten.
Aber dann gibt es auch solche politischen Desaster in Deutschland wie Ende November 2019, als der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) die Gemeinnützigkeit entzogen wurde. Wirklich unglaublich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie mühsam deren Kampf um Anerkennung in der Nachkriegszeit war und welche starke Rolle ihnen bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zukommt.
Genug: Eigentlich sind es solche Erfahrungen wie die eigenen in Auschwitz und das mein Leben lang nicht nachlassende Forschen, wie Menschen solche Verbrechen begehen und geschehen lassen konnten, daß ich über die Vernunftebene hinaus derartige Parolen wie die von der AfD und den Menschen, die sie äußern, zutiefst verachte. Deren Mitglieder werden so tun, als ob sie am nächsten 27. Januar, wenn die Befreiung von Auschwitz – wie gesagt durch die Sowjetarmee, das kann man denen, die immer von der Befreiung durch die Alliierten faseln, nicht oft genug sagen – wenn also die Befreiung ihren 75. Jahrestag begeht, werden AfD-Parteigänger so tun, als ob sie das Dritte Reich und das entsetzliche Treiben der Nazis ablehnten, sich aber jeden Tag mit Worten und manche auch mit Taten so verhalten. Und wer dies entsetzliche Geschehen als Fliegenschiß der Geschichte abtut, unabhängig von welchem Zeitpunkt man auf das Dritte Reich und seine monströsen Taten blickt, dem ist nicht zu helfen.
Deshalb bin ich um eine Bundeskanzlerin froh, die in Auschwitz - nachdem der damalige Bundeskanzler Willy Brandt zum Gedenken im Warschauer Ghetto spontan niederkniete, eine Geste, die mehr sagte als viele viele Worte, und Bundeskanzler Helmut Schmidt, der 1977 als erster Bundeskanzler nach Auschwitz kam und dort davon sprach, daß man angesichts des Entsetzens eigentlich nur schweigen könne - die also in Auschwitz aussprach: „ Ich empfinde tiefe Scham, wenn ich an die Verbrechen denke, die an diesem Ort von Deutschen verübt wurden. Was hier geschah, ist mit dem menschlichen Verstand nicht zu erfassen.“ Und sie sagte zusätzlich, auch in meinem Namen, daß unter Auschwitz und die deutsche Geschichte kein Schlußstrich gezogen werden könne, sondern daß Auschwitz Teil unserer nationalen Identität sei und bleibe.
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