Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Bei ihrem Besuch kürzlich in Auschwitz ging es Angela Merkel wie anderen vor ihr – sie rang nach Worten. „Heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, das fällt mir alles andere als leicht.“ Vor der Schwarzen Wand, der berüchtigten Hinrichtungsstätte in Auschwitz, an der Tausende, darunter auch Minderjährige, durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet wurden, stand Angela Merkel in tiefes Schweigen versunken. Das Bild ging um die Welt.
Was damals in dem düsteren Hof zwischen den Todesblocks 10 und 11 in Auschwitz geschah haben Überlebende als Zeugen im Frankfurter Auschwitz-Prozess geschildert, und ich war dabei. Ihre Aussagen verfolgen mich noch heute bis in den Schlaf wie ein einziger furchtbarer Alptraum. In meinen Prozessberichten habe ich versucht, alles festzuhalten - soweit mir das möglich war. Eines Tages wird sich niemand mehr vorstellen können, was damals geschah.
Auszug aus meinem Buch „Asche auf vereisten Wegen“: „Erschütternd war die Aussage des polnischen Zeugen Stefan Boratynski. Er war in einem der Todesblocks unter die zu Erschießenden eingereiht worden und trug bereits auf der nackten Haut die mit Tintenstift geschriebene Nummer, anhand deren die Ermordeten später in den Todeslisten ‚abgesetzt’ wurden. Wie durch ein Wunder kam er mit dem Leben davon; bei der Zählung der Todeskandidaten war einer zu viel.
Boratynski im Bild links) musste später die Leichen seiner ermordeten Kameraden beiseite tragen. Er sah, dass der Angeklagte Wilhelm Boger die Opfer aus kurzer Entfernung mit einem Schuss in den Hinterkopf niederstreckte. Während die Unglücklichen an die Schwarze Wand geführt wurden habe Bogen ihnen ‚Kopf hoch!’ zugerufen. Die höhnische Aufforderung sollte bewirken, dass die Opfer ihre gesenkten Köpfe hoben, damit Boger seine Schüsse besser ansetzen konnte.“
Der SS-Oberscharführer war Gestapo-Mitarbeiter in der Politischen Abteilung von Auschwitz. Der Rang entsprach dem eines Feldwebels bei der Wehrmacht. Wegen seiner Grausamkeit und seiner Brutalität war Boger im ganzen Lager gefürchtet. An der Schwarzen Wand starben nicht nur Menschen, die sich nach Meinung der SS etwas hatten zuschulden kommen lassen, sondern auch Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer - dorthin verirrt hatten. Aussage des ehemaligen Häftlings Jan Josef Farber (im Bild rechts) aus der Tschechischen Republik:
„An einem Herbsttag 1943 sah ich morgens sehr früh im Hof von Block 11 ein kleines Mädchen. Es war ganz allein. Es hatte ein rotes Kleidchen an. Es schaute ab und zu an sich herunter und wischte sich den Staub von den Schuhen. Kurz darauf kam Boger in den Hof. Er nahm das Kind an der Hand und stellte es mit dem Gesicht gegen die Schwarze Wand. Boger ging zurück. Das Kind schaute sich noch einmal um und Boger drehte ihm das Gesicht wieder gegen die Wand. Dann erschoss er das Kind.
Während seiner Aussage blickte Farber immer wieder zu dem Angeklagten Klaus Dylewski.
‚Ich möchte da noch eine Sache von Block 11 erzählen’, hob er an. Eines Tages sei eine vierköpfige Familie in den Hof von Block 11 gebracht worden. Es habe sich um einen etwa 35jährigen Mann gehandelt, der einen Jungen an der Hand hielt, und um eine jüngere Frau, die ein Kind auf dem Arm trug. ‚Dann kam ein SS-Mann und schoss sofort dem Kind, das die Mutter auf dem Arm trug, in den Kopf. Die Mutter fiel mit dem Kind zu Boden. Er erschoss dann die Mutter, den Mann und auch den Jungen. Hier sehe ich den SS-Mann wieder.’ Mit ausgestrecktem Arm zeigte Farber auf den Angeklagten Dylewski, der sich bereits erhoben hatte. ‚Ich kannte ihn unter dem Namen Klaus.“
Redaktionelle Anmerkung:
Unser Mitarbeiter Kurt Nelhiebel hat den großen Auschwitz-Prozess als Journalist miterlebt. Seine Berichte erschienen unter anderen in der Zeitung „Die Gemeinde“, dem offiziellen Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Sein Buch „Asche auf vereisten Wegen“ erschien unter seinem Autorennamen Conrad Taler inzwischen in zweiter Auflage im Kölner PapyRossa Verlag. Dr. Marcel Atze schrieb 2003 im Newsletter Nr. 25 des Fritz Bauer Instituts: „Die Berichte von Conrad Taler sind außerordentlich
lesenswert, weil der Autor eine brillante Beobachtungsgabe besitzt und weil ihn eine ungeheure Auditivität auszeichnet. Talers Buch ist jedem zu empfehlen, der sich rasch über den Verlauf des Auschwitzprozesses, über dessen Höhepunkte und die im Gerichtssaal ausgetragenen Konflikte ein Bild machen möchte. Jeder wird zudem durch Conrad Talers außerordentliches sprachliches Darstellungsvermögen belohnt.“
Fotos:
© Fotos entnommen dem 871 Seiten starken Begleitbuch zur der leider nicht mehr existierenden Ausstellung über den Auschwitz-Prozess, gestaltet von Dr. Irmtrud Wojak, herausgegeben im Auftrag des Fritz Bauer Instituts
Fotos:
© Fotos entnommen dem 871 Seiten starken Begleitbuch zur der leider nicht mehr existierenden Ausstellung über den Auschwitz-Prozess, gestaltet von Dr. Irmtrud Wojak, herausgegeben im Auftrag des Fritz Bauer Instituts