Jkpm eremy Lackland Corbyn verliert allesVom Versagen der Labour Party bei der Wahl zum britischen Unterhaus

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Zwischentöne sind bloß Krampf im Klassenkampf“.

So der Liedermacher Franz Josef Degenhardt im Jahr 1978. Denn „trotz aller schönen Künste stinkt der Dreck nach Dreck“. Das Zaudern von Labour-Chef Jeremy Corbyn in Sachen Brexit belegt, dass Zwischentöne in Schicksalsfragen, namentlich in elementaren sozialen Streitfragen, tatsächlich unangebracht sind. Folglich hat Labours Verzicht auf klare Positionen („Neutralität“!) Boris Johnson zum Wahlsieg verholfen. Jeremy Corbyn hingegen wird als Jeremy Lackland (Jeremy ohne Land) in die britische Geschichte eingehen; als Verursacher einer durch Ignoranz heraufbeschworenen katastrophalen Niederlage.

Es ist nunmehr davon auszugehen, dass Großbritannien am 31. Januar die EU verlassen wird. Ob es auf der Grundlage des ausgehandelten Abkommens noch zu Vereinbarungen über eine Freihandelszone mit der Europäischen Union kommen wird, steht dahin.

Das Bündnis aus historisch überlebtem Adel, Wirtschaftsspekulanten, politischen Hasardeuren und Lumpenproletariat (letzteres eine Kategorisierung, die auf Karl Marx zurückgeht und den unzuverlässigen und reaktionären Teil der Werktätigen meint) übt sich derweil in Vorfreude. Es ist aber zu erwarten, dass es vor allem für die Lohnabhängigen, also die klassische Klientel von Labour, ein böses Erwachen geben wird. Denn der alte Glanz des ehemaligen Weltreichs, nach welchem sich die Dukes, Marquesses, Earls, Viscounts und Barons sowie deren Entourage zurücksehnen, war mit der Ausbeutung der Kolonien, der Misere der arbeitenden Klasse auf der Insel und diversen Handelskriegen teuer erkauft worden.

Die Auseinandersetzung um den Brexit überlagert seit drei Jahren andere Themen, in denen Zukunftsentscheidungen dringend notwendig sind. So der Wunsch der schottischen Regionalregierung auf einen Verbleib in der EU und einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich – die Regierungschefin Nicola Sturgeon hat bereits unmittelbar nach dem Vorliegen des Wahlergebnisses einen neuen Anlauf eingeleitet. Oder die Zukunft des National Health Service, der unter Ärzte- und Pflegermangel, fehlender moderner Medizintechnik und maroden Gebäuden leidet. Die britische Wirtschaft ist seit der Regierungszeit von Margaret Thatcher einerseits stark dereguliert, andererseits ist die Industrialisierung deutlich zurückgegangen und im Vergleich zur EU wenig produktiv (veraltete Anlagen, zum Teil unzureichend qualifizierte Mitarbeiter). Vor allem die Automobilindustrie befindet sich überwiegend in den Händen ausländischer Unternehmen (z.B. BMW und VW). Zwar ist London der größte Finanzplatz der Welt, aber er wird nach dem Brexit an bislang ungewohnte Grenzen stoßen und könnte folglich seine bisherige Bedeutung verlieren. Seit dem Ende der 1980er Jahre importiert das Land mehr als es exportiert, deswegen herrscht ein volkswirtschaftliches Leistungsbilanzdefizit.

Fragen über Fragen, die eigentlich in die Diskussion über den Brexit hätten einfließen müssen. Letzteres haben die Torys und Nigel Farages Brexit-Partei UKIP stets vermieden. Aber auch Labour hat das Thema nicht aufgegriffen. Mutmaßlich aus Angst, damit soziale Ängste in der eigenen Anhängerschaft auszulösen. Aber das Verdrängen von Wahrheit gerät rasch zur Lebenslüge.

Exakt eine solche Aufklärung hätte zentraler Bestandteil eines politischen Bewusstwerdungsprozesses von unten sein müssen (von oben kommt seit Thatchers Ära nur Desinformation). Labour hat einen solchen seinen Mitgliedern, Sympathisanten und langjährigen Wählern sowie dem gesamten Land verweigert. Stattdessen hat die Partei die in den unteren Schichten der arbeitenden Bevölkerung grassierenden Vorurteile gegenüber Einwanderern und gesteuerte Falschinformationen über die EU entweder hingenommen oder sogar salonfähig gemacht. Die Systemfrage, nämlich die Rolle Großbritanniens in einer Welt, die um Klima, Ökologie, soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung auf allen Kontinenten ringt, wurde allenfalls in kleinen Zirkeln gestellt. Doch an ihr führt keine Weg vorbei. Und Antworten, die heute nicht gegeben werden, wachsen sich morgen und übermorgen zu unlösbaren Problemen aus.

Dazu noch einmal Degenhardt: „Und um es genau zu sagen ohne alle Poesie: / Weg muss der Kapitalismus, her muss die Demokratie“.

Foto:
Jeremy Lackland – Corbyn verliert alles
© SWR