heuss.Bundespraesident.deWegweisende Rede von Theodor Heuss in Bergen-Belsen, dessen Befreiung durch die Briten sich am 15. April zum 75. Mal jährte

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Sieben Jahre nach der Befreiung der Insassen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durch britische Truppen am 15. April 1945 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Lagers ein Mahnmal für die Opfer eingeweiht. Bundespräsident Theodor Heuss hielt aus diesem Anlass 1952 eine Rede, in der er sich nachdrücklich gegen die Methode des Aufrechnens wandte und sie als „das Verfahren der moralisch Anspruchslosen“ geißelte. Es folgen Auszüge:

Ich weiß, manche meinen: War dieses Mal notwendig? Wäre es nicht besser gewesen, wenn Ackerfurchen hier liefen und die Gnade der sich ewig verjüngenden Fruchtbarkeit der Erde verzeihe das Geschehene?  Gut, darüber mag man meditieren, und Argumente der Sorge fehlen nicht, dass dieser Obelisk ein Stachel  sein könne, der Wunden, die der Zeiten Lauf heilen solle, das Ziel der Genesung zu erreichen nicht gestatte.

Wir wollen davon in allem Freimut sprechen. Die Deutschen dürfen nie vergessen, was von Menschen ihrer Volkszugehörigkeit in diesen schamreichen Jahren geschah. Nun höre ich den Einwand: Und die anderen? Weißt du nichts von ihren Rohheiten, ihrem Unrecht? Ich weiß davon und habe nie gezögert, davon zu sprechen. Aber Unrecht und Brutalität der anderen zu nennen, um sich darauf zu berufen, ist das Verfahren der moralisch Anspruchslosen, die es in allen Völkern gibt. Es ist kein Volk besser als das andere.

Mir scheint, der Tugendtarif, mit dem die Völker sich ausstaffieren, ist eine verderbliche und banale Angelegenheit. Er gefährdet das klare, anständige Vaterlandsgefühl, das jeden, der bewusst in seiner Geschichte steht, tragen wird, ihn aber nicht in die Dumpfheit einer pharisäerhaften Selbstgewissheit verführen darf. Gewalttätigkeit und Unrecht sind keine Dinge, die man für eine wechselseitige Kompensation gebrauchen soll und darf.

Es liegen hier die Angehörigen mancher Völker. Die Inschriften sind vielsprachig, sie sind ein Dokument der tragischen Verzerrung des europäischen Schicksals. Es liegen hier auch viele deutsche Opfer des Terrors. Hier in diesem Belsen sollten die Juden, die noch irgendwo greifbar waren, vollends verhungern oder Opfer der Seuchen werden.. Was zwischen 1933 und 1945 geschah ist das furchtbarste, was die Juden erfuhren. Der Durchbruch des biologischen Naturalismus der Halbbildung führte zur  Pedanterie des Mordens als schier automatischer Vorgang, ohne das bescheidene Bedürfnis nach einem bescheidenen quasi-moralischen Maß.

Dies gerade ist die tiefste Verderbnis dieser Zeit. Und dies ist unsere Scham, dass sich solches im Raum der Volksgeschichte vollzog, aus der Lessing und Kant, Goethe und Schiller in das Weltbewusstsein traten. Diese Scham nimmt uns niemand, niemand ab. Ach, wir haben gelernt, dass die Welt komplizierter ist als die Thesen moralisierender Literaten. Aber wir wissen auch dies: Der Mensch, die Menschheit, ist eine abstrakte Annahme, oft nur eine unverbindliche Phrase; aber die Menschlichkeit ist ein individuelles Sicht-Verhalten, ein ganz einfaches Sich-Bewähren gegenüber dem anderen, welcher Religion, welcher Rasse, welchen Standes, welchen Berufes er auch sei

Da steht der Obelisk, da steht die Wand mit den vielsprachigen Inschriften. Sie sind Stein, kalter Stein. Saxa loquuntur, Steine können sprechen. Es kommt auf den einzelnen, es kommt auf dich an, dass du ihre Sprache, dass du diese ihre besondere Sprache verstehst, um deinetwillen, um unser aller willen!

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Info:
Entnommen dem Buch „Reden deutscher Bundespräsidenten“,  Carl Hanser Verlag 1979

Theodor Heuss war nach dem Zweiten Weltkrieg Mitbegründer der FDP und von  1949 an bis 1959 erster Bundespräsident. Während der Weimarer Republik gehörte er dem Deutschen Reichstag an. Zusammen mit anderen liberalen Angeordneten stimmte er 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu, das Hitler unbeschränkte Vollmachten einräumte. Er musste sich deswegen 1947 vor einem Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags rechtfertigen. Seiner politischen Karriere tat das keinen Abbruch.