kpm GrundgesetzUnd es ist wegen Corona nicht außer Kraft gesetzt

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Misstrauen gegenüber einer allzu häufig arrogant auftretenden Exekutive ist durchaus angebracht.

Aber die immer lauter werdenden Phrasen über die angeblichen Einschränkungen von Grundrechten sind Populismus und werden vor allem von bildungsfernen und rechtsextremen Gruppen verbreitet. Denn bei einer objektiven Betrachtung beinhalten die Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, welche die Vorschriften des Bundesseuchengesetzes konkretisieren, keine Gefahren für den demokratischen Rechtsstaat. Im Gegenteil: Die Grundgesetzartikel werden nicht auf die Leitsätze reduziert, sondern vollständig, also einschließlich ihrer Absätze, angewandt.
So verpflichtet der Artikel 1 GG (Die Würde des Menschen ist unantastbar) das Parlament, die Regierung und die rechtsprechende Justiz zum Schutz der höchsten menschlichen Güter, nämlich den von Leben und Gesundheit der Bürger. Letzteres geht im Detail aus Absatz 3 hervor.

Da das Virus vor allem durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen wird, bleibt den Verantwortlichen beim gegenwärtigen Wissensstand keine andere Wahl, als Abstandsgebote (mindest 1,5 m), besondere Hygiene (Hände waschen, Desinfektion) und das Tragen zumindest einfacher Schutzmasken in Geschäften und im ÖPNV anzuordnen. Diese Verhaltensmaßnahmen haben spürbare Auswirkungen auf den Alltag. Beispielsweise führen sie zur Schließung von Geschäften, Gaststätten, kulturellen Versammlungsstätten und Betrieben, welche diese Regeln aus baulichen oder organisatorischen Gründen nicht umsetzen können oder wollen. Ebenso kann die notwendige Entzerrung des öffentlichen Raums nicht nur für Grünanlagen und Parks gelten, sondern auch für üblicherweise stark frequentierte Fußgängerzonen in den Innenstädten, wo man sich kaum ausweichen kann.

Im Horizont des führenden GG-Artikels sind auch die nachfolgenden Grundrechte zu verstehen. Artikel 2, Absatz 1 gewährt das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit dadurch nicht die Rechte anderer (beispielsweise das Recht auf Leben und Gesundheit) verletzt werden. Letzteres wird in Absatz 2 noch einmal explizit hervorgehoben.

Ist mit der Durchsetzung dieser Grundrechte tatsächlich eine Schädigung der Demokratie verbunden? Ich vermag das nicht zu erkennen, im Gegenteil.

Ebenso sehe ich in den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie keine Beeinträchtigungen des Artikels 3, der den Gleichheitsgrundsatz festschreibt. Auch Artikel 4, in dem die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse garantiert wird, erscheint mir in keiner Weise als bedroht. Da in Kirchen und Gebetshäusern die Abstandsregeln schwer bis gar nicht einzuhalten sind, muss sich religiöse Praxis einstweilen entweder auf reduzierten Zugang zu den Stätten oder auf den privaten Raum beschränken.
Die Anti-Corona-Verordnungen berühren auch nicht die in Artikel 5 geschützte Meinungs- und Pressefreiheit. Genauso ist die Versammlungsfreiheit nicht bedroht (Artikel 8 GG). Wegen der nicht zu leugnenden Ansteckungsgefahr können hier allerdings Auflagen gemäß Artikel 8, Absatz 2, erlassen werden. Artikel 11 garantiert Freizügigkeit, die allerdings zur Bekämpfung von Seuchen, Naturkatastrophen und schweren Unglücken eingeschränkt werden kann (Artikel 11, Absatz 2).

Die Auflistung der insgesamt 19 unveräußerlichen Grundrechte könnte noch fortgesetzt werden, ohne dass dabei Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Demokratie zu Tage treten würden. Lediglich bezüglich Artikel 6 (Schutz von Ehe und Familie) könnte ich mir zusätzliche Maßnahmen des Staates vorstellen. Etwa das Verbot von Fernsehsendungen und asozialen Netzwerken, in denen Gewalt entweder verherrlicht oder unkritisch akzeptiert wird. Die Zunahme von Gewalt gegen Kinder und Frauen, welche von Kritikern der Kontaktverbote vermutlich zu Recht befürchtet wird, orientiert sich bekanntlich an Vorbildern in populären Medien mit geringen Qualitätsansprüchen.

Mir fällt bei der Diskussion um die notwendige Beachtung der Grundrechte bei der unerlässlichen Abwehr von Corona auf, dass viele Vorbehalte den Äußerungen von Wirtschaftsvertretern ähneln. So mahnen Repräsentanten des global agierenden Neoliberalismus die Einhaltung der Verfassung an. Bei ihren Geschäftspartnern in China oder Indien neigen sie trotz der dortigen autoritären und undemokratische Verhältnisse nicht zum Widerspruch. Auch das Elend großer Bevölkerungsgruppen in Asien, die ihre Arbeitskraft zu Sklavenlöhnen verkaufen müssen, wird eher als marktwirtschaftliches Instrumentarium im Rahmen der eigenen Kostenminimierung gesehen.

Obwohl es bereits Ende Dezember 2019 Warnungen vor dem pandemischen Charakter des zuerst in China nachgewiesenen Virus gab, wurde der Flugverkehr bis Mitte März dieses Jahres nicht eingeschränkt bzw. streng überwacht. Jetzt kämpfen Flughäfen und Fluggesellschaften ums wirtschaftliche Überleben. Das Leben der anderen hingegen hat sie vordem kaum gekümmert. Auch deswegen empfehle ich allen, welche die Menschenrechte durch die Corona-Maßnahmen bedroht sehen, die Tatsachen vom Kopf auf die Füße zu stellen, damit sie für jeden transparent werden.

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