DAS JÜDISCHE LOGBUCH
Yves Kugelmann
Basel (weltexpresso) - Ist ein Judentum mit Religion möglich? Die jüdische Gegenfrage ist mehr als dialektische Polemik. Sie ist der Weg zur ungeliebten Antwort. Religionen und Kulturen bauen auf Gemeinschaft. Glaube nicht. Wenn in Zeiten der Pandemie Gemeinschaft virtualisiert wird, dann leben Individuen Authentizität. Judentum ist Existenzialismus, Freiheit, Grenzüberschreitung.
Judentum hat trotz der Religion überlebt und hat sich nicht auf sie reduzieren lassen. Judentum hat die Religion überwunden und ist längst über sie zu einer säkularen, heterogenen, quellenverbundenen Undefinierbarkeit hinausgewachsen, mit der sich nicht wenige schwertun.
Judentum hat sich am Widerstreit mit dem Mythos, dem Ewigen, dem Nichtverstehbaren herauskristallisiert und einen Weg eingeschlagen, der eine zeitlos starke Kultur, eine kontinuierliche Geschichte, eine oder mehrere Sprachen immer mit dem Umfeld verbindet, das das Judentum in jeder Zeit umgeben, gefördert, bekämpft, vernichtet hat. Judentum ist monotheistisch und doch nicht zentralistisch. Judentum ist nicht einheitlich, sondern immer wieder anarchistisch. Judentum ist ein Biotop, Judentum ist Avantgarde, Judentum ist aus dem Streit hervorgegangen – Judentum ist all dies und erst recht dann, wenn es sich nicht auf die Religion beruft.
Evas Ungehorsam und die Vertreibung aus dem Paradies, Abrahams Wortkampf wider Gott auf der Suche nach den Gerechten, Jakobs List, Moses’ Revolte, das aufmüpfige Volk in der Wüste und die Hingabe zum Goldenen Kalb, das Ende der Prophetie, der Bruch mit Gott oder der Bruch Gottes mit den Menschen während der Zerstörung des Zweiten Tempels, schließlich die talmudische, die säkularisierte Debatte frei von jedem Glaubensbekenntnis – alles Kampf gegen Gott, gegen Glauben, gegen Religion, gegen Reduktion auf Spiritualität. Eine Religion, die vom Gebet anstatt den richtigen Taten abhängt ist keine.
Judentum kommt seit langem ohne Gott aus. Dort, wo er in den Quellen vorkommt, war er eher in der Exegese oft Irritationsfaktor denn respektierter Schöpfer. Die Mehrheit der Juden, die Indifferenten, die Traditionalisten, ein Großteil der Zionisten und Kulturzionisten lebt einen toten Glauben oder einen lebendigen Unglauben. Die Mehrheit der Juden lebt säkular in einer säkularen Welt und glaubt eher, an Gott zu glauben, als tatsächlich zu glauben.
Viele werden wohl argumentieren, die Religion sei der innere Kitt des Judentums. Wenn es denn so sein sollte, dann allenfalls der Glaube an das Göttliche, der Glaube an die Schrift, die frei ist von Glaubensätzen und Dogmen. Was bleibt, sind ethische Ge- und Verbote in ihrer säkularisierten Form. Denn Judentum ist ohne Gott, ohne Glauben durchaus möglich, vielleicht möglicher als mit.
Hätte sich Judentum auf die Religion verlassen müssen, dann wäre es längst von den Menschen verlassen worden. Denn der Glaube, das Transzendente greift zu kurz, gerade dann, wenn keine Angst vorherrscht. Und es waren wohl die großen, die wichtigen Denkerinnen und Denker, die bedeutenden Rabbiner, die mehr an die Menschen als an Gott glaubten.
Doch gerade heute töten jene das Judentum, die es auf eine radikale nicht mehr dialektische buchstabengetreue Lebensart reduzieren wollen, die dem Judentum das Sinnliche nehmen, es auf einen fundamentalistischen, orthodoxen, geradezu judentumsfremden dogmatischen Glaubenskodex beschränken möchten. Es ist kein Zufall, dass Rabbiner eher Lehrer und Seelsorger als Geistliche und Gottesvertreter waren. Wahrscheinlich war Gott nur Chiffre oder Metapher – das große Unbekannte, das nicht beweis-, allenfalls glaubbare Irrationale.
Spinoza, Heine, Freud, Herzl, Sholem, Einstein, Kafka, Arendt, Ben Gurion, Golda Meir und die vielen anderen waren a-religiöse Jüdinnen und Juden – und gleichsam verkörpern sie Judentum wie wenige andere. Sie waren Judentum. Sie lebten Judentum. Die Assimilation war vielleicht wichtiger für das Judentum als viele wahrhaben wollen - denn letztlich war sie doch selbstbewusst Emanzipation. Sie begründete die Erneuerung und war mehr Rück- als Abkehr. In Zeiten der Pandemie erneuert sich das Judentum wiederum - wenn Individuen es weitertragen ohne Gemeinschaft, in der Isolation, religiöse oder kulturelle Gemeinschaften nicht mehr möglich sind.
Das Judentum wird überleben, wenn die Religion es nicht frisst, wenn die Ideologisierung es nicht tötet, der Nationalismus es nicht aushöhlt und der Fundamentalismus es nicht verdrängt. Es gibt – und wird es immer geben – Judentum. Trotz Religion.
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