Constanze Weinberg
Buxtehude (Weltexpresso) - Mit seinen Äußerungen zum Umgang mit älteren Kranken während der Corona-Krise hat der prominente Grünen-Politiker und Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, massive Kritik auf sich gezogen. Palmer hatte gesagt: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halber Jahr sowieso tot wären.“ Nach Angaben des Bundesgeschäftsführers der Grünen, Michael Kellner, wird der Bundesvorstand Palmer bei einer erneuten Kandidatur in Tübingen und auch bei weiteren politischen Aktivitäten nicht mehr unterstützen.
Die Bremer Buchautorin Anning Lehmensiek hat sich in einem bewegenden Offenen Brief an Boris Palmer gewandt, den wir mit Genehmigung der Verfasserin an dieser Stelle veröffentlichen. Als Motto wählte sie den an Cäsar gerichteten Satz “Morituri te salutant“, “Die Todgeweihten grüßen dich!“
Herr Palmer!
Als sozusagen Betroffene drängt es mich, auf Ihre Einlassung, dass wir „in Deutschland möglicherweise Menschen (retten), die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, zu reagieren. Als fast 80jährige Frau, die an Krebs erkrankt ist, gehöre ich wohl zu dem Kreis von Menschen, den Sie im Auge gehabt haben, und ich möchte mich in aller Form gegen Ihre Äußerung verwahren. Zunächst will ich klar stellen, dass allein ich selber entscheiden möchte, ob ich „gerettet“ werden will. Vor allem beunruhigt mich aber Ihre Einstellung dazu, wer in der Zeit der Pandemie gerettet werden sollte und wer nicht. Welches sind Ihre Kriterien? Was soll mit denen geschehen, die Ihrer Meinung nach nicht würdig sind, gerettet zu werden? Sollte man mich und meine Altersgenossen vielleicht in ein Ghetto sperren, wo sie ohne weitere Hilfsmaßnahmen sich selbst überlassen werden, um dann irgendwann zu sterben? Vielleicht sollte man in solchen Ghettos auch schwer Behinderte, Alkoholiker und Obdachlose unterbringen? Mir graut, wenn ich mir die Konsequenzen Ihrer Äußerung klar mache, erinnern sie doch erschreckend an die Vorstellungen (und Taten!) der Nationalsozialisten.
In der „Jüdischen Allgemeinen“ vom 30. April 2020 lese ich auf Seite 19, dass Jakob Augstein auf Twitter in eine ähnliche Richtung wie Sie argumentiert: „Leben ist nie der höchste oder gar der einzige Wert der Gesellschaft – und unserer schon gar nicht.“ Auf die Frage, was denn wichtiger sein könnte, antwortet er: „Kultur, Glück, Gemeinschaft, Freiheit zum Beispiel...“ Diesen Werten kann also nach Augstein das Leben des Einzelnen untergeordnet werden. Das macht mich fassungslos. Zu Recht stellt der Autor des Artikels in der „Jüdischen Allgemeinen“ den Spruch auf dem Transparent eines Teilnehmers einer Demonstration in den USA daneben: „Opfert die Schwachen!“
Vielleicht haben Sie einmal Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ gelesen. Dort heißt es:
„Keinen verderben zu lassen, auch nicht sich selber, jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das ist gut.“ Ich meine, das sollte die Maxime unseres Denkens und Handelns sein!
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