
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Glaubt man der „Chronik des 20.Jahrhunderts“, dann ist am 24. Mai 1945 nichts Besonders passiert. Für mich ist das Datum jedoch von außergewöhnlicher Bedeutung. An jenem Tag wurde mir das Leben zum zweiten Mal geschenkt. Zum ersten Mal war das am 29. Juni 1927 geschehen, als meine Mutter mich während einer totalen Sonnenfinsternis zur Welt brachte.

Wie lange ich zu gehen haben würde, wusste ich nicht. Der Krieg war zu Ende, und ich wollte nach Hause. Vor mir lagen etwa vier- bis fünfhundert Kilometer. Züge oder Busse gab es nicht. Ich musste den Weg zu Fuß zurücklegen. Dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war, hatte ich vor ein paar Stunden von russischen Soldaten erfahren, denen ich am Morgen des 9. Mai 1945 am Stadtrand von Treuenbrietzen in die Arme gelaufen war. Es war nicht meine erste Begegnung mit der Roten Armee. Eine Woche zuvor war ich in Berlin als Funker der Wehrmacht in russische Gefangenschaft geraten, hatte aber nach drei Tagen während einer nächtlichen Rast in Trebbin fliehen können.
Fünf Tage und fünf Nächte versteckte ich mich im Wald, bis mich der Hunger wieder in die Nähe von Menschen trieb. Aus einem Haus stürmten sowjetische Soldaten auf mich zu.. Sie lachten und riefen immer wieder: »Wojna kaput, Wojna kaput.«, Krieg kaputt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie mir sagen wollten. Die Wehrmacht hatte in der Nacht kapituliert. Ich fragte nach etwas Essbarem. Einer der Soldaten lief zurück und reichte mir ein Stück Brot und ein halb mit Zucker gefülltes Kochgeschirr. Eine seltsame Nähe verband mich in diesem Augenblick mit den fremden Soldaten. Waren sie nicht auch arme Schweine? Einer der Rotarmisten band mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Oberarm und sagte: »Du nach Chause.«

In Kurzlipsdorf, einem kleinen Ort etwa zwanzig Kilometer südlich von Treuenbrietzen, klopfte ich am Abend an die erstbeste Tür und fragte nach einem Nachtlager. Ich wurde freundlich aufgenommen. Zum ersten Mal seit Wochen schlief ich in einem Bett. Am nächsten Morgen marschierte ich weiter. Da ich nichts besaß, womit ich mich hätte ausweisen können – mein Soldbuch hatte ich weggeworfen – mied ich größere Orte. Jeden Tag legte ich etwa dreißig Kilometer zurück. In der Nähe von Pirna brachte mich ein Mann mit seinem Ruderboot ans andere Ufer der Elbe. Deren Quelle war jetzt nicht mehr gar so weit weg. Dort im Riesengebirge lag auf der tschechischen Seite mein Zuhause.
Berichte von Landsern über Gräueltaten gegenüber Deutschen ignorierte ich. Was sollte mir schon passieren. Ich hatte ein gutes Gewissen, und mein Heimweh war groß. Auf Waldwegen überquerte ich bei Sebnitz die sächsisch-tschechische Grenze. Von Vrchlabi (Hohenelbe) aus rief ich meinen Vater in Trutnov (Trautenau) an und signalisierte ihm, dass ich in zwei Tagen daheim sein werde. In Hostinné (Arnau) bekam meine Zuversicht einen Dämpfer. Eine bewaffnete Zivilstreife hielt mich an. Die beiden Männer trugen

Mit einem Mal wurde es still. Die Anwesenden traten zur Seite und salutierten. Ein Mann in hellem Trenchcoat, den sie mit »Pane

Ohne den Blick von mir zu wenden, machte er ein paar Schritte rückwärts und faltete das mit Maschine beschriebene zerknitterte DIN A 5 Blatt auseinander. Laut las er dann vor, was mein Vater geschrieben hatte. »Soll denn unsere Jugend völlig verbluten? Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?« Mit ernstem Gesicht trat der Mann, in dessen Hand mein Schicksal ganz offensichtlich lag, vor mich hin. »Dieser Brief hat dir das Leben gerettet«, sagte er gepresst. Und an die Polizisten gewandt: »Stellt ihm einen Passierschein aus.« Dann drehte er sich um und verließ grußlos den Raum. Ich konnte gehen. Auf der Straße löste sich meine Anspannung und Tränen schossen mir in die Augen. Mechanisch griff ich an die linke Brusttasche, in der neben dem Brief meines Vaters der rettende Passierschein knisterte.
Fotos: © privat
Der Brief des Vaters (Ausschnitt)
Der Sohn in Wehrmachtsuniform
Der Brief des Vaters
Tschechische Bescheinigung
Deutsche Übersetzung
Info:
Der vollständige Briefwechsel aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen unserem Autor und seinem Vater ist nachzulesen in dem Buch »Im Wirrwarr der Meinungen«, das Conrad Taler unter seinem bürgerlichen Namen Kurt Nelhiebel veröffentlicht hat (Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2013).