Wenn sich juristischer Formalismus als menschenfeindlich entlarvt
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Entwicklung und Definition rechtlicher Normen begleitet die gesamte Menschheitsgeschichte.
Wir begegnen ihr beispielsweise im Alten Testament, der Hebräischen Bibel. In Exodus 21, Vers 24 (im Jahrtausend vor Christi entstanden), taucht die Formel „Auge um Auge“ auf, die ein Ende der über Jahrhunderte angewandten willkürlichen Rache bedeutete. Denn nun muss ein Schaden zwischen Opfer und Täter ausgeglichen und gebüßt werden und nicht über diesen Schaden hinausreichen. Dieses Gleichgewicht trägt in der juristischen Fachsprache die Bezeichnung Ius Talionis.
Der Gedanke spielt auch in den Rechtsordnungen demokratischer Staaten eine große Rolle. Mehrheitlich wurde die ursprünglich mögliche Todesstrafe verworfen und durch hohe Freiheitsstrafen ersetzt. Ähnliche Traditionslinien wie im Strafrecht findet man auch im Verfassungsrecht.
So ließen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes vom Demokratieprinzip der Weimarer Reichsverfassung und den Erfahrungen im nationalsozialistischen Unrechtsstaat leiten. Darüber hinaus reflektiert unsere Verfassung auch Leitgedanken der Aufklärung, insbesondere jene, welche die Stellung des Menschen betreffen. Das zeigt sich im Artikel 1, Absatz 1, der die Würde des Menschen allen anderen Freiheiten und Rechten voranstellt. Erkennbare Grundlage ist Immanuel Kants Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Er nennt darin drei Kardinaltugenden der Humanität: Die Achtung des Menschen vor dem anderen, die Anerkenntnis seines Rechts zu existieren, die Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen.
Sämtliche diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nehmen direkt oder indirekt auf dieses Menschenrecht, das eine Quintessenz aus der wechselvollen deutschen Rechtsgeschichte ist, Bezug. Entsprechend würdigen es auch die maßgeblichen Kommentare zum Grundgesetz („Maunz / Düring“ oder „v. Mangoldt/Klein/Starck“).
Vor diesem Hintergrund verwundert mich die Beitragsreihe von Rolf Gössner („Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand“), die am 27. Mai in „Weltexpresso“ begann. Von ihm sind mir eine Reihe politischer Bücher bekannt. Als Autor juristischer, insbesondere verfassungsrechtlicher, Veröffentlichungen habe ich ihn jedoch bisher nie wahrgenommen. Von daher irritiert mich seine Verwegenheit, von einer Gefährdung der Grundrechte und des Rechtsstaats zu sprechen, die ihre Ursachen in den Corona-Abwehrmaßnahmen hätten.
Bereits in der Einleitung verlässt er die Ebene einer seriöser Argumentation. So behauptet er, dass „die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Maßnahmen letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage und widersprüchlicher Begründungen verhängt worden“ seien. Da frage ich mich, ob Herr Gössner die Plakate der Corona-Leugner abgeschrieben hat, weil er keinen Zugang zu Fachinformationen besitzt. Denn die Weltgesundheitsorganisation meldete erst vor wenigen Tagen ca. 5,7 Millionen Infizierte weltweit. In den USA sind mittlerweile über 100.000 Menschen gestorben. Die Tendenz ist eindeutig: Überall dort, wo Vorsichtsmaßnahmen aus politischen (wirtschaftlichen) Gründen nicht gewollt sind bzw. nachlässig praktiziert werden, wächst die Ansteckungsgefahr und mit ihr das Risiko, an der Krankheit zu sterben. Diese Datenlage ist nicht nur abgesichert, sie ist eindeutig. Auch in Deutschland, wo wegen eines beherzteren Eingreifens aktuell „nur“ 8.500 Tote zu beklagen sind. Die Widersprüche, die Gössner erwähnt, ergeben sich aus dem Ringen der Virologen um zusätzliche Erkenntnisse über die Struktur des Virus sowie über die Schwachstellen des menschlichen Körpers gegenüber solchen Infektionen. Und nicht zuletzt aus dem Kampf um einen geeigneten Impfstoff.
Aber auch auf seinem eigentlichen Fachgebiet, der Jurisprudenz, neigt Dr. Gössner zu unhaltbaren Bewertungen. In seiner ersten These spricht er von „obrigkeitsstaatlichen Abwehrmaßnahmen“, die tief in das Leben aller Menschen eingriffen. Doch die grundgesetzlich verbrieften Grund- und Freiheitsrechte gelten nach wie vor, kein Parlament hat sie außer Kraft gesetzt und erst recht keine Regierung. Allerdings: Grundrechte finden ihre Grenze im Recht der Menschen auf Gesundheit und Leben. Deswegen ist es unerlässlich, die Grundgesetzartikel vollständig und in ihrem Kontext zu lesen.
Juristisch abenteuerlich ist auch die Bemerkung, dass der Staat nunmehr Güter für schutzwürdig erklären würde, denen er ansonsten nicht eine solche Wertschätzung zuteilwerden ließe. Selbst falls das zuträfe, was im konkreten Fall nicht der Fall ist, gäbe es niemandem das Recht, eine Folge von Irrtümern und Falschentscheidungen fortzusetzen. Wer auf der Grundlage dieser anwaltlichen Einschätzungen eine Klage vor Gericht anstrengen würde, müsste mit einem Scheitern rechnen. Allein aus formalrechtlichen Gründen; die Inhalte würden gar nicht erst verhandelt.
Auch in seiner dritten These redet Gössner einen Zustand herbei, der nicht real existiert. Organisierte kollektive Meinungsäußerungen sind im öffentlichen Raum nicht tabu; es gelten lediglich Abstandsgebot und Maskenpflicht. Was er unter „organisierter Gegenwehr“ versteht, führt er im Einzelnen nicht aus. Vielleicht schwebt ihm ein Griff in die Waffenschränke organisierter Reichsbürger vor? Ich habe als zufälliger Augenzeuge bei einer Demonstration von „nichtohneuns“ erlebt, wer dort mit welchen Phrasen demonstriert hat. Das war typischer Pegida-Pöbel.
Selbstverständlich steht es außer Zweifel, dass Corona neben seiner Gefahr für Leib und Gesundheit auch Auswirkungen auf die Wirtschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhang hat. Ein Kennzeichen der Demonstrationen gegen die Corona-bedingten Einschränkungen ist jedoch unübersehbar: Sie tragen einen prokapitalistischen und zunehmend rechtsradikalen Charakter, der jede Humanität und menschliche Solidarität diskreditiert. Auch den Einfältigen unter den Demonstrierenden sollte mittlerweile klar geworden sein, was Wolf Biermann 1968 unter dem Eindruck des Attentats auf Rudi Dutschke schrieb: „Schon wieder Blut und Tränen, was rennst du denn mit denen, doch weißt doch, was dir blüht!“
In seiner vierten These beklagt er den verfassungsrechtlich bestehenden „Primat der Gesundheitsvorsorge“ und empfiehlt indirekt eine Abwägung von Freiheits- gegen Lebensrechte. Das erinnert mich an einen besonders schlechten Juristen, nämlich an Ferdinand von Schirach. Der ist der Meinung, dass der Staat trotz Artikel 1 GG beispielsweise auch den Straßenverkehr erlaubt, der mitunter tödlich verliefe (so in seinem Buch „Die Würde ist antastbar“). Nein, der Staat erlaubt den Straßenverkehr unter der Prämisse, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die Gesetze halten. Andernfalls drohen ihnen Strafen.
In seiner sechsten These bezieht sich Gössner auf die Verfassungsrechtlerin Andrea Edenharter. Die gehört inhaltlich zur Schirach-Liga. Der unlängst verstorbene Rolf Hochhuth prägte den „geflügelten“ Begriff vom „furchtbaren Juristen“ (der später auch von Ingo Müller in seinem gleichnamigen Buch verwendet wurde). Er meinte damit Leute vom Schlage Hans Filbingers, deren juristischer Formalismus sich vollständig dem Faschismus angepasst hatten.
Dieses Diskussionspapier ist eine Zumutung. Wie formulierte Ludwig Wittgenstein in seinem berühmten „Tractatus“? „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Foto:
Händel bei einer Demonstration von "Widerstandstand 2020" in Berlin
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