Thomas Latzel
Frankfurt am Main (Weltexpresso) -„Herbstgold“. So heißt eine Dokumentation von Jan Tenhaven aus dem Jahr 2010, die mir ein guter Freund vor Kurzem geliehen hat. Der Film hat mich tief bewegt. Er handelt von fünf Sportler/innen, die sich auf die Leichtathletik-Weltmeisterschaft der Senior/innen 2009 in Lahti (Finnland) vorbereiten. „Senior/innen“ meint hier Menschen ab 35 Jahren.
Die fünf portraitierten Athlet/innen sind zwischen 85 und 100 Jahre alt. Gabre Gabric aus Brescia (Italien) etwa tritt im Diskuswurf an. Sie verrät nicht, wie alt sie ist, weil sie es höchst unangemessen findet, auf ihr Alter reduziert zu werden. Sie ist internationale Sportlerin - seit ihrer Teilnahme an den Olympischen Spielen 1936. Oder der deutsch-schwedische Sprinter Herbert Liedtke, der es einfach nicht mag, Zweiter zu werden. Die Frau, mit der er regelmäßig joggt, kommt für ihn als Partnerin für mehr nicht in Frage. Obwohl ihm die körperliche Liebe fehlt. Erschrocken muss er feststellen, dass ein argentinischer Konkurrent in der Wettkampf-Klasse bis 95 Jahren antritt, den er nicht auf dem Plan hatte. Ilse Pleuger aus Kiel wiederum knackt zwar den Weltrekord im Kugelstoßen der Frauen über 85 Jahren. Aber sie bleibt einen Zentimeter unter ihrem gesteckten Ziel: nur 5,99 m.
Fünf Wettkämpfer/innen, für die Dabeisein nicht alles ist, sondern: „höher, schneller, stärker“ (citius, altius, fortius). Ihre Geschichten stehen auf heilsame Weise quer zu stereotypen Bildern des Alterns. Etwa wenn der 100-jährige Alfred Proksch, Künstler und Diskuswerfer aus Wien, beim Aktzeichnen davon erzählt, wie ihm der Sex fehlt, weil seine Freundin vor ein paar Jahren nach Innsbruck gezogen ist. Wenn Frau Pleuger mit einem Besen alleine durch ihre Wohnung tanzt, einsam nach dem Tod ihres geliebten Mannes und zugleich frei, noch einmal neue Seiten an sich zu entdecken. Oder der Tscheche Jiří Soukup, Jahrgang 1927, der seiner kopfschüttelnden Frau die Hoch-Sprungtechnik im heimischen Wohnzimmer demonstriert.
Jeden Tag gehen sie raus, um ihren Körper zu trainieren. Und um den Stein des Sisyphos aufs Neue zu wälzen. Auch wenn die Kräfte mit jedem Jahr nachlassen.
Werden wir weiser? Ich weiß es nicht. Nach meiner begrenzten, subjektiven Erfahrung bin ich eher skeptisch. Wir werden reifer, hoffentlich, und erfahrener. Ein Leben, das - so Gott will - sich entwickeln und eine eigene Note entfalten kann wie ein guter, runder Wein. Mit Aromen des Schönen, Schwierigen und Bitteren. Wir erleben es selbst, noch einmal bei den Kindern (soweit kann ich bisher mitreden), vielleicht auch noch im dritten oder vierten Loop bei den Enkeln und Ur-Enkeln. Und doch stehen wir immer wieder vor dem Geheimnis wie am Anfang: Dass ich bin und nicht „nicht bin“. Dass Menschen, die ich liebe, von einem Tag auf den anderen nicht mehr da sind. Und auch ich selbst einmal sterben werde. Welchen Sinn mein Lieben und Leben angesichts des Todes haben - wunderschön, vergänglich, abgrundtief. Der Fels des Sisyphos wird nicht kleiner, je länger wir ihn wälzen. Auch wenn wir die Wege bergauf und bergrunter besser kennen. Das gehört zum Wesen des Geheimnisses im Unterschied zum Rätsel: Es lässt sich nicht lösen, sondern wird tiefer, je intensiver wir uns damit beschäftigen. Erschreckend und schön zugleich.
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ (Psalm 90,10) Manche biblischen Aussagen zum Alter(n) sind getragen von einem dunklen Moll-Ton. Verständlich in einer Zeit, in der es keine Zahnärzte, künstliche Kniegelenke und gesetzliche Altersversicherung gab. Kein drittes Lebensalter von „Silver Surfern“, „Best Agern“ oder „Generation Gold“, die den Lebensabend beim Caipirinha am Oberdeck genießen. So zumindest in der Werbung. Zugleich geht auch heute Alter für andere weiterhin mit Mühe und vor allem Einsamkeit einher - weltweit, aber auch in Deutschland. Altern hat viele verschiedene, oft wechselnde Gesichter. Es steht quer zu stereotypen Mustern - sowohl von Kreuzfahrt-Romantik als auch von gutgemeinten Fürbitt-Reihen: „für unsere Armen, Alten und Ausgegrenzten“. Diese Vielgestalt spiegelt sich auch in der Bibel wider. So findet sich neben der Klage über die „bösen Tage und die Jahre ..., da du sagen wirst: ‚Sie gefallen mir nicht‘“ (Pred 12,1-7) eben auch Verheißungen eines prallen, satten, langen Lebens: „Als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.“ (Jes 65,20) Interessant ist dabei das - je nach Zählung - fünfte bzw. vierte Gebot des Dekalogs: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“ (2. Mose 20,12). Wie die 10 Gebote insgesamt richtet sich auch dieses nicht an Kinder, sondern an Erwachsene. Es geht nicht um den Appell zum kindlichen Brav-Sein, sondern darum, die eigenen, greisen Eltern zu versorgen und wertzuschätzen. Als solches trägt es als einziges der zehn Gebote eine unmittelbare Zusage in sich: „auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ In den Greisen unserer Tage weiter die Wettkämpferin und den Athleten zu sehen, die sie sind. Ihren Leistungen die Achtung zu erweisen, die sie verdienen. Kein Mitleid. Menschen, die kämpfen - wie alle anderen auch: um zu gewinnen, um geliebt zu werden, um die Kugel einen Zentimeter weiter zu stoßen.
Nein, ich glaube, wir werden nicht weiser, nur reifer und erfahrener. Vielleicht. Wir wälzen unsere Steine weiter. Tag für Tag. In der langen Reihe der Generationen. Um denen nach uns Mut zu machen, ihre Felsen zu wälzen. Und um weiterzutragen, worauf die vor uns hofften: „Don't lose your grip on the dreams of the past. You must fight just to keep them alive“ (Survivor). Die große Hoffnung, dass einmal all unser Kämpfen und Lieben, unser Wunsch, anerkannt, geliebt, erfüllt zu sein, sein Ziel erreichen wird. Dereinst. Wenn Gott als Liebe sein wird „alles in allem.“ (1. Kor 15)
Am Ende der Dokumentation „Herbstgold“ tritt der hundertjährige Alfred Proksch in den Ring für den Diskus-Wettbewerb. Er ist der einzige Sportler in seiner Altersklasse. Nach einer Knieoperation fällt es ihm schwer, ohne Rollator zu gehen. Aber er lässt ihn außerhalb des Rings stehen. Seine ganze Konzentration ist sichtbar darauf gerichtet, beim Wurf nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nicht über den weißen Balken zu treten. Dann dreht er, soweit es geht, seinen Oberkörper, zieht den Arm nach vorne, wirft die Scheibe. Und in der allerletzten Einstellung zeigt die Kamera einen Diskus, der fliegt und fliegt und fliegt. Bis hinauf in den Abend-Himmel über Lahti.
Die letzten Runden
Wenn es soweit ist, Gott,
gib mir die Kraft.
Zum letzten Schritt
Über die Ziellinie.
In meiner Zeit.
Doch bis es soweit ist, Gott,
gib mir die Ausdauer.
Um weiter zu laufen.
Runde um Runde.
Tag für Tag.
(TL)
Foto:
© Verfasser
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Weitere Texte finden Sie unter:
www.glauben-denken.de
www.queres-aus-der-quarantaene.de
Jeden Tag gehen sie raus, um ihren Körper zu trainieren. Und um den Stein des Sisyphos aufs Neue zu wälzen. Auch wenn die Kräfte mit jedem Jahr nachlassen.
Werden wir weiser? Ich weiß es nicht. Nach meiner begrenzten, subjektiven Erfahrung bin ich eher skeptisch. Wir werden reifer, hoffentlich, und erfahrener. Ein Leben, das - so Gott will - sich entwickeln und eine eigene Note entfalten kann wie ein guter, runder Wein. Mit Aromen des Schönen, Schwierigen und Bitteren. Wir erleben es selbst, noch einmal bei den Kindern (soweit kann ich bisher mitreden), vielleicht auch noch im dritten oder vierten Loop bei den Enkeln und Ur-Enkeln. Und doch stehen wir immer wieder vor dem Geheimnis wie am Anfang: Dass ich bin und nicht „nicht bin“. Dass Menschen, die ich liebe, von einem Tag auf den anderen nicht mehr da sind. Und auch ich selbst einmal sterben werde. Welchen Sinn mein Lieben und Leben angesichts des Todes haben - wunderschön, vergänglich, abgrundtief. Der Fels des Sisyphos wird nicht kleiner, je länger wir ihn wälzen. Auch wenn wir die Wege bergauf und bergrunter besser kennen. Das gehört zum Wesen des Geheimnisses im Unterschied zum Rätsel: Es lässt sich nicht lösen, sondern wird tiefer, je intensiver wir uns damit beschäftigen. Erschreckend und schön zugleich.
„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ (Psalm 90,10) Manche biblischen Aussagen zum Alter(n) sind getragen von einem dunklen Moll-Ton. Verständlich in einer Zeit, in der es keine Zahnärzte, künstliche Kniegelenke und gesetzliche Altersversicherung gab. Kein drittes Lebensalter von „Silver Surfern“, „Best Agern“ oder „Generation Gold“, die den Lebensabend beim Caipirinha am Oberdeck genießen. So zumindest in der Werbung. Zugleich geht auch heute Alter für andere weiterhin mit Mühe und vor allem Einsamkeit einher - weltweit, aber auch in Deutschland. Altern hat viele verschiedene, oft wechselnde Gesichter. Es steht quer zu stereotypen Mustern - sowohl von Kreuzfahrt-Romantik als auch von gutgemeinten Fürbitt-Reihen: „für unsere Armen, Alten und Ausgegrenzten“. Diese Vielgestalt spiegelt sich auch in der Bibel wider. So findet sich neben der Klage über die „bösen Tage und die Jahre ..., da du sagen wirst: ‚Sie gefallen mir nicht‘“ (Pred 12,1-7) eben auch Verheißungen eines prallen, satten, langen Lebens: „Als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.“ (Jes 65,20) Interessant ist dabei das - je nach Zählung - fünfte bzw. vierte Gebot des Dekalogs: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“ (2. Mose 20,12). Wie die 10 Gebote insgesamt richtet sich auch dieses nicht an Kinder, sondern an Erwachsene. Es geht nicht um den Appell zum kindlichen Brav-Sein, sondern darum, die eigenen, greisen Eltern zu versorgen und wertzuschätzen. Als solches trägt es als einziges der zehn Gebote eine unmittelbare Zusage in sich: „auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ In den Greisen unserer Tage weiter die Wettkämpferin und den Athleten zu sehen, die sie sind. Ihren Leistungen die Achtung zu erweisen, die sie verdienen. Kein Mitleid. Menschen, die kämpfen - wie alle anderen auch: um zu gewinnen, um geliebt zu werden, um die Kugel einen Zentimeter weiter zu stoßen.
Nein, ich glaube, wir werden nicht weiser, nur reifer und erfahrener. Vielleicht. Wir wälzen unsere Steine weiter. Tag für Tag. In der langen Reihe der Generationen. Um denen nach uns Mut zu machen, ihre Felsen zu wälzen. Und um weiterzutragen, worauf die vor uns hofften: „Don't lose your grip on the dreams of the past. You must fight just to keep them alive“ (Survivor). Die große Hoffnung, dass einmal all unser Kämpfen und Lieben, unser Wunsch, anerkannt, geliebt, erfüllt zu sein, sein Ziel erreichen wird. Dereinst. Wenn Gott als Liebe sein wird „alles in allem.“ (1. Kor 15)
Am Ende der Dokumentation „Herbstgold“ tritt der hundertjährige Alfred Proksch in den Ring für den Diskus-Wettbewerb. Er ist der einzige Sportler in seiner Altersklasse. Nach einer Knieoperation fällt es ihm schwer, ohne Rollator zu gehen. Aber er lässt ihn außerhalb des Rings stehen. Seine ganze Konzentration ist sichtbar darauf gerichtet, beim Wurf nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nicht über den weißen Balken zu treten. Dann dreht er, soweit es geht, seinen Oberkörper, zieht den Arm nach vorne, wirft die Scheibe. Und in der allerletzten Einstellung zeigt die Kamera einen Diskus, der fliegt und fliegt und fliegt. Bis hinauf in den Abend-Himmel über Lahti.
Die letzten Runden
Wenn es soweit ist, Gott,
gib mir die Kraft.
Zum letzten Schritt
Über die Ziellinie.
In meiner Zeit.
Doch bis es soweit ist, Gott,
gib mir die Ausdauer.
Um weiter zu laufen.
Runde um Runde.
Tag für Tag.
(TL)
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