Yves Kugelmann
Zürich (Weltexpreso) - Mittelmeer Juli 2020. Farhad ist inzwischen 18 Jahre alt. Im November 2019 ist er mit seiner damals 15 Jahre alten Schwester über die Türkei mit einem Boot geflüchtet. Die Bilder auf seinem Handy von der Überquerung sind kaum zu ertragen. Ein einfaches Holzboot, schreiende Kinder und Babys sowie ein Motor, der ausfällt. Irgendwie manövrieren die Flüchtlinge trotz Dunkelheit und Kälte das Schiff ans Festland.
Diesmal gab es keine Toten. Die Odyssee von Afghanistan über Iran ist zu Ende und eine neue beginnt. Seit acht Monaten lebt Farhad nun mit seiner Schwester im Flüchtlingslager. Farhad besucht täglich den Englisch-Unterricht einer Hilfsorganisation, spricht die Sprache inzwischen recht gut. Was sich auf den ersten Blick wie eine sichere Bleibe auf Zeit darstellt, entpuppt sich rasch als humanitäres Versagen Europas. Menschen zusammengepfercht in behelfsmässigen Zelten. Die Hygiene ist selbst im Sommer nicht gewährleistet. 90 Euro erhalten die erwachsenen Flüchtlinge pro Monat. Den Grossteil des Geldes verwenden sie für Essen. Das Camp-Essen ist erbärmlich und keiner der meist muslimischen Flüchtlinge weiss, ob das Fleisch Hallal ist oder ob gar mit Schweinefleisch gekocht wird. Unklarheit ist der eine Teil des Systems, Ungewissheit der andere. Der Rest des Geldes wird für Kommunikation und Kleider benötigt.
Farhad lebt mit seiner Schwester getrennt von seinen Eltern. Die Familie ist von Afghanistan nach Iran geflüchtet, wo die Eltern vorläufig geblieben sind. Sie unterstützten die Migration der Kinder nach Europa für eine neue Zukunft. Kinder irgendwo im Getriebe der Weltpolitik. Die Türkei hat den Flüchtlingsdeal de facto aufgekündigt, Europa ist mit Corona beschäftigt und die Anrainerstaaten Griechenland und Italien sorgen abseits von Politik und Weltpresse für Fakten, die Teil eines Zynismus sind, den man 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum mehr für möglich gehalten hätte. Die legalen und illegalen Flüchtlingslager werden Schritt für Schritt aufgelöst, wobei der Status der Menschen geändert wird. Farhads Schwester hat soeben die Erlaubnis erhalten, in Europa zu bleiben. Doch ihr Bruder nicht. Die Bürokratie trennt die Geschwister, die nur noch einander haben. Farhad beschützt seine Schwester. Doch wie, wenn er Europa in wenigen Monaten verlassen muss? Der Anwalt für einen Rekurs kostet 600 Euro. Die günstigen Anwälte von Hilfswerken sind masslos überlastet, seit die Bürokratie Menschen überfordert, die noch nicht mit Formularen, Institutionen umgehen können und ihre Rechte und Möglichkeiten neben dem tagtäglichen Kampf für ein einigermassen würdiges Leben kaum kennen. Offiziell gibt es in den Flüchtlingslagern noch keine Corona-Fälle. An allen Ecken und Enden informieren Hilfsorganisationen über die Pandemie. Die Flüchtlinge sind sich der Gefahr bewusst. «Wenn der erste Fall im Lager ankommt, bedeutet das unser Ende», sagt Farhad. Die Ansteckung wird unter Lagerbedingungen kaum aufzuhalten sein. Die Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR versucht, neue Flüchtlinge einige Tage in Quarantäne zu setzen. Die Hitze brütet, die Abende sind warm. Doch in wenigen Monaten droht wieder der harte Winter. Farhad und seine Schwester werden dann irgendwo getrennt in Europa umherirren. Er illegal, sie mit Erlaubnis. Denn in zwei Tagen wird die Rekursfrist für Farhad abgelaufen sein. Es ist Zeit fürs Mittagsgebet. Einige Männer laufen zum Betraum. Farhad nicht. «Ich bete nicht». Für ihn ist der Islam seine Heimat, die er in der Fremde mitträgt. Die Reinheitsgesetze, die Kultur des Respekts und die Traditionen. Den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, vor dem die Familie letztlich geflüchtet ist, sieht er als Hauptgefahr in seiner Region. Im Lager allerdings spielt Ethnie und Religion keine Rolle. Da leben Menschen aus Afrika, Nahost, Osteuropa miteinander und versuchen solidarisch zu sein, während die Übergriffe von aus Mitteleuropa angereisten Rechtsextremen allen noch in den Knochen sitzen und Gespräche mit Europäern zuerst mal von Misstrauen geprägt sind. Farhad muss gehen. Seine Schwester wartet im Zelt in einem dschungelartigen Teil des Lagers.
Eine Geschichte von Zehntausenden, die rund herum den Menschen ins Gesicht geschrieben ist. Frauen mit ihren Kleinkindern, die den Alltag zu bewältigen suchen. Kinder ohne Eltern. Alte Männer, die vermutlich viel jünger sind, als sie aussehen. Blicke, die nicht mehr loslassen. Blicke, die Geschichten erzählen. Auf eine Lösung hoffen vor dem drohenden Winter. Weg von Angst, Schmutz, Kampf um das Nötigste und Sorgen um die Familien. Irgendwo in Europa im Sommer 2020. Dort, wo längst niemand mehr hinschaut, wo Menschen Verhandlungsmasse von Geo- und Opfer von Machtpolitik geworden sind. Doch irgendwann wird Europa Zeugnis ablegen müssen – auch all jene, die weggeschaut und von nichts gewusst haben.
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© tachles
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom17. Juli 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.