Bildschirmfoto 2020 10 02 um 21.46.02Interview mit dem deutschen Außenminister zu 30 Jahren Deutschland

Ives Kugelmann

Berlin (Weltexpresso) - Deutschland begeht mit dem Nationalfeiertag vom 3. Oktober 30 Jahre Einheit . Anlaß für ein Interview mit Deutschlands Außenminister Heiko Maas über Deutschlands internationale Rolle, Migration und Juden in Europa.

tachles: Sie selbst sind im Moment in Quarantäne. Die internationale Welt ist über die Pandemie hinaus herausgefordert, ebenso Deutschlands Außenpolitik in Griechenland, im Kaukasus und anderen Konfliktherden. Der bevorstehende G-20 von Saudi-Arabien findet nur virtuell statt. Wie verändert diese virtuelle Realität internationale Politik faktisch gerade bei Lösungen von Krisen?

Heiko Maas: Wenn wir eines in den letzten Monaten gelernt haben, dann ist es, dass Außenpolitik vom direkten Austausch lebt. Vieles läßt sich zwar weitaus besser bewerkstelligen, als wir am Anfang der Pandemie zu hoffen gewagt hätten. Das gilt insbesondere für die Ausrichtung grosser Konferenzen. Insofern werden uns sicherlich einige der neu hinzugewonnenen Kommunikationskanäle auch nach der Pandemie erhalten bleiben. Aber: Videokonferenzen und Telefonate ersetzen nicht das direkte Treffen mit Partnern und den persönliche Austausch unter vier Augen. Das ist aber für Verhandlung, für das Lösen von Krisen immens wichtig.


Sie bezeichneten die Situation nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos als «humanitäre Katastrophe». Bei Ihrem Amtsantritt als Außenminister haben Sie immer wieder auf die Schoah referiert als Motivation für Ihr politisches Engagement. Eine hohe Messlatte für politisches Wirken. Was können Sie konkret in dieser Situation tun?

Deutschland ist gerade dabei, insgesamt rund 2700 der verwundbarsten Kinder mit ihren Familien nach Deutschland zu holen. Der Brand hat uns allen erneut eindrücklich gezeigt, wie dringend wir eine einheitliche Migrationspolitik brauchen, wenn wir weitere «Morias» verhindern wollen. Die EU-Kommission hat letzte Woche neue Vorschläge für Reformen der europäischen Flucht- und Migrationspolitik gemacht. Wir wollen unsere EU-Ratspräsidentschaft dazu nutzen, Kompromisse zu schmieden, für ein neues, flexibles System der Solidarität und Verantwortungsteilung, das wirklich funktioniert.


Irgendwie erinnert die Flüchtlingssituation – ohne dies als historischen Vergleich anführen zu wollen – an die Flüchtlingskonferenz von 1938 in Evian, als die jüdischen Flüchtlinge unter Federführung der USA auf 32 Staaten hätten verteilt werden sollen. Der Ausgang der Konferenz gilt als moralische Katastrophe. Scheitert Europa über 80 Jahre später trotz aller inzwischen etablierten Errungenschaften, Verfassungen, Menschenrechts- und anderer Konventionen wieder?

Die europäische Debatte über Flucht und Migration täte gut daran, ihren Fokus zu erweitern. Flucht und Migration sind eine Realität unserer heutigen Welt, die man sich nicht wegwünschen kann. Legale Migration ist – richtig gesteuert – nützlich und notwendig. Deshalb geht es darum, Wege zu finden, damit auf konstruktive Art und Weise umzugehen. Dafür brauchen wir einen umfassenden Ansatz, der sowohl Solidarität nach innen wie auch Partnerschaften, die beiden Seiten nützen, nach aussen ermöglicht. Ohne partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern wird eine Neuordnung der EU-Migrationspolitik nicht gelingen. Wir werden nur gemeinschaftlich tragfähige Wege finden, Migration besser zu steuern und Rückführungen schneller zu realisieren.


Deutschland hat bereits vor dem Brand von Moria zugesagt, rund 1500 Flüchtlinge aufzunehmen. Städte und Gemeinden in Deutschland würden noch mehr aufnehmen. Andere europäische Staaten folgten dem deutschen Beispiel einmal mehr nach 2015 nicht. Wie wollen Sie als stärkste EU-Nation diese Situation ändern?

Deutschland hat sich im Frühjahr bereit erklärt, knapp 1000 Menschen aufzunehmen. Nach dem Brand haben wir diese Zusage auf knapp 2700 Menschen erhöht. Das war angesichts der Lage eine sehr richtige Entscheidung. Wir haben klargemacht, dass wir bereit sind, noch weiter zu gehen, wenn andere europäische Partner mitziehen. Ich glaube, dass diese Linie einerseits hilft, tiefe Not zu lindern. Gleichzeitig verlieren wir aber das europäische Miteinander nicht aus den Augen.

Der Pakt für Migration und Asyl, den die Kommission letzte Woche vorgestellt hat, gibt uns eine neue Grundlage, wieder Bewegung in die seit langem festgefahrene Debatte zu bringen. Mit ihrem Kompromissvorschlag trägt die Kommission den Realitäten in der EU Rechnung. Gelingt uns keine Einigung innerhalb der EU, werden wir auch zukünftig immer wieder auf unbefriedigende Ad-hoc-Lösungen angewiesen sein. Die Leidtragenden werden die Menschen sein, die in Seenot geraten oder in den Aufnahmezentren an den EU-Grenzen unter unwürdigen Zuständen ausharren. Noch länger auf der Stelle zu treten ist keine Option.


Deutschland hat international ein außergewöhnlich hohes Ansehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel gilt weltweit als Garantin für ein stabiles Europa. Sie selbst haben im Sommer eine Eskalation im Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei erfolgreich verhindert. Sollte Deutschland nicht eine aktivere Außenpolitik wahrnehmen und die seit 1949 etablierte Friedenspolitik noch stärker und selbstbewusster einbringen?

Das tun wir bereits, oftmals im engen Verbund mit unseren europäischen Partnern. Unsere Diplomatinnen und Diplomaten sind bei vielen Verhandlungen weltweit als Vermittlerinnen und Vermittler aktiv. Wir unterstützen mit Initiativen wie dem Berliner Prozess für Libyen aktiv Bemühungen der Vereinten Nationen um Frieden. Die Bundeswehr leistet in Einsätzen wie der EU-Operation EUNAVFOR MED SOFIA, die die Einhaltung des Waffenembargos für Libyen überwacht, einen wichtigen Beitrag für Friedensprozesse. Für uns steht aber auch fest, dass es um das aussenpolitische Engagement der gesamten EU geht: Wir müssen uns als Europäer in der Außen- und Sicherheitspolitik stärker einbringen. Wir setzen uns deshalb für eine geschlossene, strategische EU-Aussenpolitik ein.


Griechenland hält an Reparaturzahlugen Deutschlands für Verbrechen im Zweiten Weltkrieg fest. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hielt die Forderungen für vertretbar. Die Bundesregierung lehnt ab. Auch Polen fordert weiterhin Reparaturzahlungen. Bleibt Deutschland erpressbar und kann in Europa außenpolitisch nur mit angezogener Handbremse politisieren?

Die Rechtsauffassung der Bundesregierung ist klar: Die Reparationsfrage ist juristisch abschließend geregelt. Daran hat sich nichts geändert und das wissen auch unsere europäischen Partner. Aber Deutschland bekennt sich zu seiner politischen und moralischen Verantwortung für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Diese Erinnerung und Aufarbeitung werden für uns niemals abgeschlossen sein – das ist mir auch persönlich ein grosses Anliegen. Deutschland leistet deshalb ganz konkrete Beiträge dazu, die Erinnerung an die Opfer und die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs wachzuhalten – in Griechenland, in Polen und in vielen weiteren europäischen Ländern.


Die Bundesregierung hat den vergifteten russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny nach Deutschland geholt. Bundeskanzlerin Merkel hat ihn im Spital besucht und die Bundesregierung macht offizielle Stellen Russlands für den Mordversuch verantwortlich. Werden Sie mit den USA Sanktionen beschließen und Nordstream 2 aufkündigen?

Die Bundesregierung hat gesagt, dass Russland erklären muss, wie es zur Anwendung eines chemischen Nervenkampfstoffes auf seinem Territorium kommen konnte. Dass der zweifelsfreie Nachweis dieses Nervenkampfstoffs bislang von drei Laboren in drei Ländern unabhängig gefunden werden konnte, verleiht dieser Forderung nur noch Nachdruck. Im Lichte der russischen Reaktion auf das Geschehene beraten wir natürlich gemeinsam mit unseren EU-Partnern über die nächsten Schritte. Die EU-27 setzen sich dabei für eine gemeinsame internationale Reaktion ein und behalten sich dabei geeignete Massnahmen vor.


Deutschland hat im Moment Vorsitz im Rat der EU. Seit 2018 ist Deutschland nicht ständiges Mitglied im Uno-Sicherheitsrat. Sie wollen einen ständigen Sitz. Unter der US-Präsidentschaft von Donald Trump mit der Aufkündigung des Multilateralismus mit Austritten u. a. aus internationalen Organisationen stellt sich die Multilateralismusprämisse Deutschlands für internationale Koalitionen noch isolierter dar. Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in der Welt, wenn Trump in eine zweite Präsidentschaftsphase gehen würde?

Kein Land, egal wie groß es ist, kann die Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa die Globalisierung, den Klimawandel, Migration oder Digitalisierung, alleine stemmen. Dafür brauchen wir Organisationen wie die Vereinten Nationen heute mehr denn je. Wir sehen bedauerlicherweise, dass die Grundidee internationaler Zusammenarbeit und unsere regelbasierte Weltordnung von manchen, auch sehr großen Staaten, in Frage gestellt werden. Als sichtbare Alternative zu diesen Anfechtungen haben wir die «Allianz für den Multilateralismus» gegründet, in der sich mittlerweile mehr als 60 Länder engagieren. Deutschland ist und bleibt ein Teamplayer aus Überzeugung. Daher werden wir uns auch weiter mit allen, die es wollen, für ein verständiges und verlässliches Miteinander der Staaten dieser Welt, kurzum für Multilateralismus einsetzen.


Sie haben die einseitige Aufkündigung des Iran-Deals durch die USA kritisiert und wollen am Abkommen festhalten. Das von den USA etablierte Abkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel hat Deutschland offiziell bisher nicht unterstützt. Was ist Deutschlands mittelfristige Agenda für Nahost und für Israel?

Das von den USA vermittelte Abkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten ist eine gute Nachricht – sowohl für die Menschen in den beteiligten Staaten, als auch für den Frieden in der Region. Deshalb haben wir sie auch ausdrücklich begrüsst. Wir hoffen jetzt, dass von dieser Vereinbarung – wie auch von dem Abkommen zwischen Israel und Bahrain – auch neue Impulse für den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern ausgehen können. Dafür setzten wir uns ein, gemeinsam mit unseren europäischen und arabischen Partnern und natürlich im Gespräch mit den Konfliktparteien.


Und die Atomvereinbarung?

Die Atomvereinbarung mit Iran ist ein wichtiger Beitrag zur Wahrung von Stabilität im Nahen und Mittleren Osten. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und den übrigen Teilnehmern wollen wir sie weiter erhalten und vollständig umsetzen. Denn es ist das einzige Instrument, das wir haben, mit dem das iranische Nuklearprogramm eingehegt und unter die Überwachung durch die Internationale Atomenergie-Organisation gestellt wird. Dies zu bewahren liegt in unserem gemeinsamen europäischen und internationalen Sicherheitsinteresse.


Deutschland begeht in diesen Tagen 30 Jahre deutsche Einheit. Morgen feiert Deutschland den Tag der Deutschen Einheit. Eine Erfolgsgeschichte, die aber in Deutschland und Europa überlagert wird durch aufstrebende rechtspopulistische Parteien. Herrscht in Deutschland die Gefahr, nationalistischer zu werden und die liberale Mehrheit zu verlieren?

Rechtsextremismus ist heute die größte Gefahr für unsere offene Gesellschaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will, dass Deutschland ein weltoffenes und tolerantes Land ist. Aber das reicht nicht, wenn diese Mehrheit es zulässt, dass eine hasserfüllte Minderheit den Ton angibt. Wir müssen nicht nur mehr, sondern auch lauter sein. Es ist an uns allen, dafür zu sorgen, dass weder in Deutschland noch außerhalb Deutschlands der Eindruck entsteht, dass die Mehrheit gegen Hass und Hetze ist. Dabei kommt es auf jede und jeden an, gegen Hass und die Hetze gegen Musliminnen und Muslime, gegen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und Flüchtlinge aufzustehen. Auf dem Schulhof, im Sportverein, in der Fussgängerzone.


Deutschland führt noch bis zum Februar 2021 den Vorsitz der International Holocaust Remembrance Association (IHRA). Nachdem die IHRA im Jahr 2007 neben der Bekämpfung von Antisemitismus auch den Kampf gegen Antiziganismus zur Kernaufgabe gemacht hat, wollen Sie am 8. Oktober eine Antizganismus-Definition verabschieden. Ein wichtiges Zeichen. An welche Erwartungen knüpfen Sie dieses Engagement?

Die Arbeitsdefinition von Antiziganismus soll uns dabei helfen, das Phänomen und die ihm zugrunde liegenden Muster leichter zu erkennen und dagegen vorzugehen. Sie hilft uns ausserdem, international politische Aufmerksamkeit auf die Themen lenken. Die Arbeitsdefinition zu Holocaust-Leugnung und Antisemitismus der IHRA zeigen, wie hilfreich dieses Vorgehen ist. Wir hoffen, dass wir mit einer Einigung auf die Arbeitsdefinition zu Antiziganismus auch ein Zeichen in der EU setzen. Anfang Oktober wird die EU-Kommission einen neue EU-Rahmen für Gleichheit, Inklusion und Teilhabe der Roma vorstellen. Wir wollen das nutzen, um in unserer EU-Ratspräsidentschaft die Diskussion über den Kampf gegen Antiziganismus voranzubringen. Eine IHRA-Arbeitsdefinition wäre hierfür eine gute Grundlage.


In der EU und Deutschland gibt es sogenannte Antisemitismusbeauftragte. Muss das wirklich sein in einem Europa der garantierten Gleichheit mit aller Unterschiedlichkeit und bedeutet dies nicht eine Art Entmündigung von so genannten Minderheiten?

Es wäre schön, wenn wir solche Beauftragten nicht bräuchten. Aber ein Blick auf die steigenden Zahlen von Übergriffen auf jüdische Einrichtungen und Jüdinnen und Juden genügt: Europaweit ist noch viel mehr Engagement im Kampf gegen Antisemitismus nötig. Hier dürfen wir Jüdinnen und Juden nicht allein lassen. Der Schutz von Minderheiten ist eine politische und gesellschaftliche Aufgabe. Antisemitismusbeauftragte spielen dabei eine wichtige Rolle: Sie lenken Aufmerksamkeit auf das Thema und koordinieren Massnahmen zu Bildung, Prävention und Bekämpfung. Wir wollen diesen Austausch der Beauftragten in Europa während unserer Ratspräsidentschaft noch weiter stärken.


In Deutschland und Europa sind in den letzten 20 Jahren neue jüdische Zentren, Gemeinden und ein vielfältiges jüdisches Leben entstanden. Sie selbst waren vor drei Wochen beim 70. Jubiläum des Zentralrats der Juden in Deutschland mit dem halben Kabinett präsent. Wie blicken Sie auf die jüdische Zukunft in Europa?

Gerade das letzte Jahr mit den Anschlägen von Halle und anderen antisemitischen Übergriffen hat uns allen schmerzhaft vor Augen geführt, dass es weiterhin eine reale Bedrohung für jüdisches Leben in Europa gibt. Trotzdem blicke ich grundsätzlich zuversichtlich auf die jüdische Zukunft in Europa. Bei der Gründung des Zentralrats sassen die Jüdinnen und Juden noch auf gepackten Koffern. 70 Jahre später sehen wir eindrucksvoll, wie heute die junge Generation Deutschlands Festivals wie «Jewrovision» feiert, wie Programme wie «Shalom aleikum» oder «Meet a Jew» Begegnungen zwischen Juden und Nicht-Juden ermöglichen. Ich wünsche mir, dass wir noch stärker als bisher jüdische Kultur und jüdisches Leben in ganz Europa feiern und für die gesamte Gesellschaft erfahrbar machen. Ein erster Ansatzpunkt ist das Festjahr 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland, das wir 2021 begehen und das wir als Auswärtiges Amt auch über die Grenzen Deutschlands hinaus tragen wollen.

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Deutschlands Aussenminister Heiko Maas plädiert für Multilateralismus
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