Zwei Sichtweisen über zweierlei Maß und die Doppelmoral in der Politik. Teil 2/2
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der Abschied von überholten Weltbildern fällt schwer.
Auch die Linke, die sich gern als progressive Avantgarde darstellt, tut sich schwer mit der Erkenntnis, dass aus der autoritär-sozialistischen Sowjetunion mehrere erzkapitalistische und antidemokratische Staaten hervorgegangen sind, allen voran Russland. Und dass letzteres längst nicht mehr das Vaterland aller Werktätigen dieser Welt ist – es eigentlich nie war. Denn die Revolution hat ihre Kinder bereits vor Jahrzehnten entlassen, geradezu hinausgeworfen, so wie überforderte Eltern ihren verzogenen Nachwuchs auf die Gesellschaft loslassen. Nicht wenige unter ihren Nachkommen haben sich die Autokraten und Neo-Kapitalisten in China zum Vorbild genommen. Oder begreifen den US-Kapitalismus als Modell zur Erringung der Weltherrschaft. Oligarchen und führende Funktionäre der Putin-Partei „Einiges Russland“ scheinen den Staat als Selbstbedienungsladen zu verstehen, dessen Kosten von der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung zu tragen sind. Bürgerrechte handeln sie sich damit jedoch nicht ein.
Unbestritten bleibt das Unrecht, welches der Sowjetunion durch Nazi-Deutschland angetan wurde. Doch es berechtigt die Opfer und deren Nachkommen nicht, ebenfalls Unrechtes zu tun und Menschenrechte nicht wirklich anzuerkennen. Auch die faktische Einkreisungspolitik durch die von den USA dominierten NATO war und ist nicht geeignet, das Vertrauen in demokratische Institutionen im russischen Volk sowie gegenüber dem Westen zu erhöhen. Sie fördert sogar Oppositionsbewegungen, die lediglich egoistisch einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum einfordern, anstatt ein ungehindertes Wahlrecht sowie die Trennung von Legislative und Exekutive sowie eine unabhängige richterliche Gewalt zu propagieren. Eine Ausnahme scheint der Rechtsanwalt Alexei Nawalny zu sein, dem wegen seiner Aktivitäten die Zulassung entzogen wurde.
Nach den Kategorien Westeuropas mag Alexei Nawalny kein lupenreiner Demokrat sein. Zumindest seine Beteiligung an der auf Zypern ansässigen Offshore-Gesellschaft Alortag Management Ltd. und deren Geschäfte im Bereich der internationalen Geldwäsche werfen Fragen auf. Verschiedene Äußerungen Nawalnys lassen sich als nationalistisch und fremdenfeindlich deuten.
Diesen Vorwürfen steht sein Kampf gegen Korruption entgegen. Vorwiegend mittels Internetkampagnen veröffentlicht er Dokumente, die seinen Verdacht gegen Unternehmen und Personen belegen sollen. Unter anderen beschuldigte er Wladimir Putin, die betrügerischen Aktivitäten von Großunternehmen sowie die Veruntreuung von Staatsgeldern gedeckt zu haben. In einigen der von Nawalny angestrengten Gerichtsverfahren war er sogar erfolgreich. Eine Geldsumme von 40 Milliarden Rubel (ca. eine Milliarde Euro) musste an die Staatskasse zurückgezahlt werden. In anderen Verfahren unterlag er, wurde mehrfach zu Gefängnisstrafen verurteilt; teilweise wurden diese zur Bewährung ausgesetzt.
Es hat den Anschein, dass Russlands Präsident ihn endgültig auf die Liste der Staatsfeinde gesetzt hat, nachdem er diesen im Februar 2016 wegen Korruptionsverdachts vor Gericht bringen wollte. Das Gericht nahm die Klage jedoch nicht an. Nawalny rief deswegen und wegen vergleichbarer Anlässe die Bevölkerung zu Protestkundgebungen auf. Diese unterstützte er durch Internet-Videos. Seine Kandidaturen für das Amt des Moskauer Bürgermeisters oder des Staatspräsidenten wurden erwartungsgemäß von den Ordnungsbehörden unterlaufen.
Der Leiter der russischen Nationalgarde, Wiktor Solotow, forderte ihn 2018 zu einem Duell auf und drohte ihm, „ein gutes, saftiges Kotelett“ aus ihm machen zu wollen. Diese und andere Drohungen erwecken den Anschein, dass in Russland die Ermordung politischer Gegner kein Tabu ist. Ähnlich wie in der Sowjetunion; ich erinnere nur an die Ermordung Trotzkis 1940 in Mexiko. Der Täter benutzte einen Eispickel.
Am 20. August 2020 brach Nawalny an Bord eines Flugzeuges zusammen, mit dem er von Tomsk (im westlichen Sibirien) nach Moskau fliegen wollte. Daraufhin entschied sich der Pilot für eine Notlandung im südwestlich davon gelegenen Omsk. Er wurde in die Klinik No. 1 eingeliefert, in ein Koma versetzt, künstlich beatmet und mit Atropin behandelt.
Die Behandlung mit Atropin ist nur bei ganz bestimmten Symptomen angezeigt, ansonsten aber absolut kontraindiziert. Es wird als Gegengift bei Vergiftungen mit bestimmten Pflanzenschutzmitteln und Nervenkampfstoffen eingesetzt. Die sibirischen Ärzte entdeckten offenbar rasch, dass es sich um eine von Kampfstoffen verursachte Vergiftung handeln musste. Und das hat Nawalny zunächst das Leben gerettet. Die späteren offiziellen gegenteiligen Verlautbarungen der dortigen Krankenhausleitung sind erkennbar auf politischen Druck hin entstanden.
Deswegen sind die gezielt verbreiteten Spekulationen, denen zufolge die Vergiftung erst während des Flugs nach Deutschland oder gar in der Charité erfolgte und Nawalny zunächst an einer Unter- oder Überzuckerung gelitten hätte, absoluter Unsinn. Auch Vertreter der LINKEN haben solchen Stuss kolportiert. Falls es jedoch ausländischen Geheimdiensten gelingen konnte, eine aufwendige Apparatur nach Russland einzuschmuggeln, um damit gezielt Politiker umzubringen, dann wären die Sicherheitsstrukturen dieses Landes so marode, dass Putin selbst von der operettenhaften Schweizer Garde des Papstes im Hellebarden-Handstreich besiegt werden könnte.
Mutmaßungen über Nawalnys Vorerkrankungen, insbesondere die Annahme eines Zuckerschocks, sind unvereinbar mit der Anwendung von Atropin. Wer das Gegenteil annimmt oder glauben will, sollte zu Pschyrembels "Klinischem Wörterbuch" greifen. Dort sind sämtliche Symptome von durch Nervengift hervorgerufenen Erkrankungen aufgeführt. Ebenso die Differentialdiagnose zum Ausschluss anderer Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen.
Die Europäische Union, die derzeit unter deutscher Ratspräsidentschaft steht, muss Russland klar machen, dass im Fall Nawalny eine moralisch und politisch unüberschreitbare Grenze überschritten wurde. Eine wirkungsvolle Sanktion könnte sein, die Gaspipeline Nordstream 2 zwar zu Ende zu bauen. Aber Deutschland könnte die künftigen Gas-Lieferpreise neu festlegen. Das träfe die Putin-Clique an ihrer empfindlichsten Stelle. Denn denen geht es nur noch um Geld und Macht.
Foto:
Alexei Nawalny inmitten einer Demonstration
© rbb