Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Nach den Worten des amerikanischen Historikers Timothy Snyder weiß Donald Trump seit Mai, dass er die Wahl nicht gewinnen wird. Normalerweise trete jemand ab, wenn er eine Wahl verliere, sagte Snyder im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 26. Oktober. Trump jedoch wolle im Amt bleiben.
Der amerikanische Präsident kümmert sich nach Meinung des an der Yale University lehrenden Wissenschaftlers nicht um demokratische Prozesse. Er werde die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl nicht akzeptieren. „Trump wird die Wahl verlieren, und es wird nichts klar sein am 3. November.“ Er werde vorgeben, dass eine Notsituation herrsche und seine Anhänger zu gewalttätigen Aktionen anstacheln. Dann werde er den Obersten Gerichtshof anrufen, den Auszählungsprozess zu stoppen.
Gefragt, ob die demokratischen Institutionen der USA auf einen Präsidenten vorbereitet seien, der sich weigere, das Weiße Haus zu verlassen, präzisierte Snyder seine Aussage: „Die Richter des Obersten Gerichtshofes wissen, dass sie benutzt werden sollen für eine autoritäre Übernahme von einem Mann, der die Wahl wohl verloren haben wird. Sie konnten sich darauf vorbereiten. Auch Amy Coney Barrett weiß, dass sie vom allem für einen Coup d’Etat nominiert wurde.“ Anders als 2016 sei sich jetzt jeder auf der demokratischen Seite bewusst, dass es um einen Regimewechsel gehe und nicht nur um einen normalen Wahlkampf. „Wir leben in einer sehr fragilen Demokratie. Trump wird alles versuchen, er will um jeden Preis im Amt bleiben. Wir werden einen sehr schmutzigen November und Dezember erleben.“
Auch die an der University of Southern California lehrende Professorin Karen.Tongson sorgt sich um den Zustand der Vereinigten Staaten. Zunehmend legitimierten die Regierung und ihre Propagandaorgane rechtsradikale und rassistische Gruppen. Gegen die Vertreter der freien Presse werde autoritär vorgegangen. Jeder, der sich gegen den Faschismus ausspreche, werde auf gleiche Weise brutal behandelt. Die ‚Antifa’ sei dabei zur zeitgenössischen Entsprechung des ‚Kommunisten’ geworden, der während des Aufstiegs der Nazis als Sündenbock habe herhalten müssen.
Tongson machte die Äußerungen im Rahmen einer Vortragsreihe, die an Thomas Manns Reden an die deutschen Hörer während der Nazizeit anknüpft. (SZ 28. Oktober.) Ihren Worten zufolge steht die Demokratie in den USA am Rande des Abgrunds. Die enge Verzahnung der repräsentativen Demokratie mit der „herrschenden Klasse“ sichere die Macht der Privilegierten. Demokratie könne man aber nicht einfach auf einen Führungswechsel reduzieren. Ohne die Umverteilung von Macht und Ressourcen und ohne Fürsorge für die Entrechteten bedeute „Freiheit“ nichts. Und Demokratie bedeute nichts, wenn sie nicht mit einer Aufarbeitung von Kolonialismus, Völkermord und Versklavung einhergehe, sie bedeute nichts ohne die Auseinandersetzung mit der alltäglichen Entrechtung, an die wir uns durch einen Kapitalismus gewöhnte hätten, den wir mit „Freiheit“ verwechselten. In den Nachrichten, so Karen Tongson weiter, werde wie selbstverständlich darüber spekuliert, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika möglicherweise nicht freiwillig aus dem Amt scheiden werde, „während wir uns auf ein Wahlchaos vorbereiten, das normalerweise internationale Beobachter auf den Plan rufen würde.“
Wie konnte es so weit kommen? Liegt es nur an einem Präsidenten, von dem es heißt, er habe weder Werte noch Ideale, der an nichts glaube, außer an sich selbst, der keine Bücher lese und auch keine Musik mag, oder ist er nur das Spiegelbild einer Gesellschaft, die außer Geld und Profit nichts anderes kennt und die Kluft zwischen Arm und Reich damit immer weiter vertieft. Ist diese Kluft wirklich schon so tief, dass nicht einmal mehr eine Entwicklung in Richtung Faschismus auszuschließen sei, wie die Politikwissenschaftlerin an der Harvard Kennedy School, Cathrin Ashbrook, in einer ARD-Dokumentation über Donald Trump mutmaßte?
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Ausschnitt aus einem Foto von
©Jørgen Håland / Unsplash
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