Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das diesjährige Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 war ein anderes als das vergangener Jahre - es war vornehmlich, ausdrücklich und wesentlich vom Anschlag in Halle innerviert.
Der neue große Anschlag hatte einen Vorläufer am 25. März 1994, als vier Attentäter Molotow-Cocktails durch ein Seitenfenster der Lübecker Synagoge warfen. Dieser richtungsmachende Anschlag fand im Westen der Republik statt.
Salomon Korn, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, rezitierte zu Beginn seiner Ansprache aus der Vergangenheit. Die Ansprache konnte übrigens nicht, wie sonst, im Hochbunker an der Friedberger Anlage (den die Nazis auf die fortbestehende Grundfläche der in Frankfurt prächtigsten, in der Nacht des Novemberpogroms von Nazi-Schergen niedergebrannten Ostend-Synagoge gerammt hatten) stattfinden, sondern wurde aus Corona-Gründen über das weltweite Netz an die jüdische Gemeinde und der mit ihr untrennbar Verbundenen ausgestrahlt.
Die Übertragung steht im Netz zur Verfügung. Zur angemessenen Botschaft des Tages gehörte aber auch, dass Kantor Yoni Rose „eigens in Begleitung der Pianistin Tamar Halperin und des Opernsängers Andreas Scholl ein Gedächtnisgebet für die Verstorbenen als Märtyrer“ aufzeichnete, „ebenso Kaddisch und ein Glaubensbekenntnis (Ani Ma’Amin)“.
Die Ahnung war immer dem vorgeschaltet, was dann eintraf
Das Zitat, das Salomon Korn an den Anfang stellte, lautet: „Schlimmer kann es nicht kommen“. Diesem liegt ein sehr menschlicher Gedanke zugrunde. Denn so oder ganz ähnlich mögen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Halle an der Saale 1937 gedacht haben. Nachdem aber in 1937 deutschlandweit jüdische Geschäfte boykottiert und jüdisches Leben und Wirken aus der Öffentlichkeit verdrängt worden war, „wurden die Hallenser Gemeindemitglieder gezwungen, ihren eigenen Friedhof zu schänden und die heilige Totenruhe ihrer Verstorbenen zu stören“. 180 Gräber mussten vom jüdischen Gottesacker auf den Friedhof Bölkestraße ‚umgebettet‘ werden. Eine Steigerung solcher Vorgänge schien zum damaligen Zeitpunkt nicht zu toppen, wie man heutzutage salopp zu sagen pflegt.
Aber das war nur ein Beginn der unfassbaren Bedrängung und Bedrohung an Leib und Leben deutscher Juden zum damaligen Zeitpunkt, denn am 9. November 1938 setzte der planmäßig eingefädelte, von blankem Hass getriebene, finale Vernichtungsfeldzug gegen jüdische Mitmenschen in das Stadium ein, das Hitler als die Ausrottung vorangekündigt hatte. Und bedenken wir, was die Hallenser Juden 1994 aussprachen, als fünf schlafende Menschen sich im letzten Moment aus der mit Molotow-Cocktails beworfenen Synagoge gerade noch retten konnten: „Wird es womöglich noch schlimmer kommen?“
Das Brandlegen als Fetisch des archaischen Vernichtungstriebs
Salomon Korn sprach die erschütternde Linientreue der Feuerwehr auch bei der Zerstörung der Synagoge Friedberger Anlage in Frankfurt an. Die Feuerwehr sei ausgerückt, insoweit innerhalb von zwei Tagen vier Mal Feuer gelegt wurden. Damit sollte das Übergreifen auf andere Gebäude verhindert werden. Den „feuerlegenden Schwerverbrechern“ aber sei freie Bahn gegeben und die Juden als eigentliche Brandstifter anschließend der Verfolgung ausgesetzt gewesen, woraufhin die Gemeinde die Kosten des Abbruchs zu tragen hatte. So hält es die sadistische Persönlichkeit. Wie primitiv und gemein doch Nazis gestrickt sind. Später seien aus Brandstiftern Massenmörder geworden. Vorgearbeitet hatte eine Feuerwehr, die sich zum Erfüllungsgehilfen des NS-Willens degradiert hatte. Gegenwärtig erfahren wir von rechtspopulistischen Tendenzen in der Feuerwehrführung.
Von ursprünglich 2100 Synagogen überstanden nur etwa 200 den staatlicherseits entfachten Feuersturm, der zuletzt alles in Deutschland in den Abgrund gerissen habe, wie Salomon Korn ableitete. Das Brandgeschehen könne symbolisch für die Millionen menschlicher Körper stehen, die in Asche gelegt wurden und damit auch die 2000jährige Geschichte der Juden in Deutschland. Schon auch die Bücherverbrennungen des Jahres 1933 waren Fanale „einer unverhüllten Vernichtungsdrohung an die Adresse der in Deutschland lebenden Juden“.
Unser Gedenken ist bei den „800 Menschen, die deutschlandweit zwischen 7. und 13. November 1938 im Zuge von Pogromen ermordet und gleichzeitig über 1400 Synagogen in Deutschland und Österreich vor 82 Jahren in Brand gesetzt und zerstört wurden“. Heute lassen sich noch Synagogen in Hinterhöfen ausmachen, die offiziell der Vergessenheit anheimgefallen sind. Es gibt Fremdenführer, die, wenn sie auch auf die mehr oder weniger zerstörten oder heruntergekommenen Synagogen zu sprechen kommen sollen, sich eines Grinsens im Mundwinkel nicht erwehren können.
Das war knapp
Vom neuerlichen Anschlag in Halle wird unweigerlich haften bleiben, dass ein Rechtsradikaler, schwerbewaffneter Attentäter nur deshalb nicht erfolgreich war beim Versuch, eine vollbesetzte Synagoge zur Stätte der Katastrophe zu machen, weil es ihm nicht gelang, die massive Schlossanlage mit Waffengewalt aufzubrechen; während aber außerhalb der Mauern der Synagoge Tote und Verletzte zu beklagen waren. Seit spätestens 2020 gehe es nicht mehr ohne Polizisten vor Synagogen und oft nicht ohne Sicherheitszäune, stellt Salomon Korn fest. „Jüdische Einrichtungen ohne Polizeischutz sind undenkbar“ - geworden. In den vorherigen 30er Jahren erschien das deutsch-jüdische Alltagsleben noch als unbedroht, „trotz des tiefverwurzelten Anti-Judaismus“.
Hoffnungsvoll erscheint Salomon Korn – abgesehen davon, dass der Schutz jüdischen Lebens zum Staatsziel erhoben worden sei – die nach antisemitischen Gewalttaten auf Fotos festgehaltenen Meere von Blumen im Gebiet der Tatorte, das Arrangement von Blumen und mitfühlenden Bezeigungen, in denen die Botschaft ‚Wir stehen zur Gemeinde der Juden‘ Sinnbild wurde. Korn kommt im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Novemberpogrome nicht nur auf abgelegte Blumen zu sprechen, die er als Gesten der Solidarität und des Mitgefühls interpretiert, „die den großen Unterschied zu 1938 markieren“. Hinzu kämen die ermutigenden Zuschriften an die jüdischen Gemeinden und Zeitungsartikel, die sich der Sache immer wieder annähmen. Wozu wir selbst seit einigen Jahren beitragen.
Buchtitel: ‚Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen‘
Von Oberbürgermeister Peter Feldmann stammt aus seiner kurz und knapp gehaltenen Ansprache zum Neunten November das Diktum, dass der furchtbare Weg der Deutschen im Kleinen begann. Das war eine Wendung, die auch der frühere Kulturdezernent Felix Semmelroth zu gegebenem Anlass immer wieder zum Ausdruck brachte, wenn er darauf insistierte: „Das Problem sind die Normalen“. OB Feldmann schlussfolgerte für das ausschlaggebende Kleine: „In Schulen, am Arbeitsplatz, am Küchentisch, in Familien. Heute sind wieder Synagogen Ziele von Terror, artikuliert sich Rassenhass, Juden- und Völkerhass. [...] Leider auch in unseren Parlamenten“. - „Mit vielen kleinen falschen Schritten, im Wegschauen, dem Weghören, klammheimlicher Zustimmung - so beginnt der Weg in die Barbarei“.
Der Hass der Nationalsozialisten richtete sich laut Salomon Korn gezielt auf eine große Frankfurter jüdische Gemeinde, die als ‚Neu-Jerusalem am fränkischen Jordan‘ verleumdet worden sei – wegen ihrer Liberalität, die als undeutsch gebrandmarkt wurde, während Frankfurt den rechtskonservativen Frankfurter Kräften seit langem ein Dorn im Auge war. - Damit dürfte auch die in jener Zeit sich schon abzeichnende Kritische Theorie der Frankfurter Schule gemeint gewesen sein.
Den Beginn der Ansprache Peter Feldmanns möchten wir der Kürze und Prägnanz halber noch 1 : 1 zitieren:
„Die großen Frankfurter Synagogen, die zwischen 1860 und 1911 errichtet wurden, waren die sichtbaren Zeichen des Stolzes und der Größe der Frankfurter jüdischen Gemeinde.
Sie war deshalb auch 1938 Ziel des Hasses der Nazis. Die Thora-Rolle – das Heiligste – wurde geschändet, Rabbiner gedemütigt, misshandelt.
Es ist oft gesagt worden, in dieser Nacht fiel die Kulturgeschichte ins Mittelalter zurück. Das stimmt. Es war ein Schritt in die Vernichtungslager für Millionen, die in der Ermordung endete“.
Foto 1:
erleuchtete Westend-Synagoge am Abend des 9. November 2020
© Heinz Markert
Foto 2:
© alemannia-judaica
Info:
„Der Link zum Stream wird auf https://jg-ffm.de und auf dem Facebook- und Instagramprofil der Gemeinde kommuniziert.
Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main www jg-ffm.de“