Rosa AP ArchivEin paar Worte zur Geschichte einer oft missdeuteten Beziehung

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) Dieser Artikel beruht auf einem Briefwechsel zwischen Claudia Schulmerich und mir anlässlich des spektakulären Hinauswurfs von Jeremy Corbyn aus der britischen Labour-Partei. Dem langjährigen Vorsitzenden waren schwere Versäumnisse im  Umgang mit dem Antisemitismus vorgeworfen worden. Drei Wochen nach seiner Suspendierung wurde der linke Haudegen wieder aufgenommen.

Corbyn, der wegen Unterstützung der Palästinenser im Nahostkonflikt häufig in der Kritik stand, betonte jetzt in einer Erklärung, dass die Labour-Partei den Antisemitismus niemals tolerieren und Sorgen deswegen nie verharmlosen dürfe. Die große Mehrheit der Mitglieder sei überzeugt anti-rassistisch und lehne Antisemitismus entschieden ab. Sein Nachfolger Keir Starmer versprach einen „Kulturwandel“..

In einer Mail hatte sich Claudia Schulmerich zum Ausschluss von Corbyn geäußert und mich gefragt, ob ich nicht etwas zum Verhältnis zwischen der Linken und den Juden sagen möchte. Ich schrieb ihr daraufhin:

„Dass Dich der Rausschmiss von Corbyn verstört, verstehe ich. Ich habe davon und auch von den Vorwürfen gegen ihn wegen seines Umgangs mit dem Antisemitismus erst durch Dich erfahren. Sie auf die gesamte Linke zu übertragen wäre ebenso falsch, wie die Augen davor zu verschließen, dass sich die Linke da gelegentlich ein Problem auflädt,  das von der Sache her gesehen nichts mit ihr zu tun haben darf. Der Konflikt zwischen den Palästinensern und dem Staat Israel zum Beispiel ist kein Konflikt zwischen Nicht-Juden und Juden, sondern ein gesellschaftlicher Konflikt mit tiefen Wurzeln in der Geschichte des Nahen Ostens. Doch davon weiß ich zu wenig.

Es waren überwiegend jüdische Vordenker, die dem Kommunismus als Menschheitsidee Flügel verliehen haben, angefangen von Karl Marx bis hin zu Heinrich Heine, der im "Wintermärchen" auf geniale Weise das gesamte Kommunistische Manifest vorweggenommen hat. Und zwar so, dass jeder versteht, um was es geht. Bei dem ersten Versuch, die kommunistische Idee in die Tat umzusetzen,  also als Theorie und Praxis sich aneinander zu reiben begannen, gerieten sie sich allerdings rasch in die Haare.

Ich nenne hier nur die Namen von Leo Trotzky und Rosa Luxemburg. Ihr Konflikt mit  Stalin hatte politische Gründe. Einen strukturellen Antisemitismus hat es in der kommunistischen Weltbewegung so lange nicht gegeben, wie Stalin seine Sinne noch beieinander hatte. Das war zum Schluss anscheinend nicht mehr der Fall. Da machte er für seine altersbedingten Beschwerden jüdische Ärzte verantwortlich, die ihm durch falsche Medikamente angeblich nach dem Leben trachteten. Daraus entstand schnell die Wahnidee einer jüdischen Verschwörung gegen den Kommunismus. Sie hatte eine Reihe von grauenvollen und beschämenden Schauprozessen gegen jüdische Spitzenfunktionäre zur Folge.

Für mich der schlimmste – ich kam ja in der ersten tschechoslowakischen Republik zur Welt -  war der Prozess gegen den Vorsitzenden der tschechischen KP, Rudolf Slansky und eine Reihe weiterer Funktionäre mit jüdischen Wurzeln. Sie wurden als Parteifeinde zum Tode verurteilt und ihre Asche auf die verschneiten Prager Vorstadtstraßen gestreut, so wie es die Nazis mit der Asche der in Auschwitz vergasten Juden gemacht haben. Dort wurde die Asche der Ermordeten auf die vereisten Wege der Todesfabrik  gestreut, wie einer der Zeugen im großen Frankfurter Auschwitz-Prozess berichtete. Ich habe die Szene später in meinem Buch "Asche auf vereisten Wegen" beschrieben.

Rudolf Slansky und die anderen Opfer des Prager Prozesses wurden später rehabilitiert. Der Schaden, den die  Vollstrecker des Stalinschen Verfolgungswahns der Idee des Kommunismus damit zugefügt haben, war damit jedoch nicht behoben. Er haftet den Linken in aller Welt als Makel noch heute wie Pech an den Sohlen. Ein Grund mehr, nie wieder auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Feindschaft gegenüber den Juden ein für alle Mal der Vergangenheit angehören muss.“

Claudia rief nun ihrerseits in Erinnerung, wie sie den heutigen Umgang mit jüdischen Menschen erlebt. Sie sei in Frankfurt aufgewachsen und habe, den schrecklichen Nazispuk mit all seinen Morden im Rücken, als Schülerin und später als Lehrerin ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Nie habe es eine Rolle gespielt, woher die Kinder und später die Jugendlichen gekommen seien. „Wir haben höchstens vom Italiener oder von Türken gesprochen worden, nie aber von  Juden. Allerdings habe ich einmal  den Vater einer jüdischen Schülerin einer fünften Klasse zu einem Gespräch gebeten. Mir war aufgefallen, dass das Mädchen immer zusammenzuckte, wenn ich in seine Nähe kam.“

„Als ich sah, dass der Vater ein recht alter Mann war, habe ich spontan gefragt: ‚Wie haben Sie überlebt?’ Und dann hat er eine Dreiviertel Stunde lang aus seinem Leben erzählt. Auf meine Frage nach dem Überleben sagte er zum Schluss: ‚Das hat mich noch niemand gefragt.' Damals wohnte die Familie bereits zwanzig Jahre in Frankfurt. Der Vater musste noch einmal kommen, damit wir über seine Tochter sprechen konnten. Dabei erfuhr ich, dass die Lehrerin der hiesigen jüdischen Grundschule Kinder schlug  und meine neue Schülerin deshalb etwas Angst vor mir hatte.“

Diese bewegende Geschichte erzählt mehr vom Leben, als viele Worte es vermöchten, auch und nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Fehltritts von Jeremy Corbyn und dem so oft missdeuteten Verhältnis zwischen Linken und Juden.

Foto:
Die linke Sozialdemokratin Rosa Luxemburg ©AP Archiv