Bildschirmfoto 2020 12 06 um 01.10.03Zum kürzlichen Tod von sechs Holocaustüberlebenden

Redaktion

Basel (Weltexpresso) - Überdeckt von der täglichen Nachrichtenflut aus den USA wurde der Tod von sechs Holocaustüberlebenden, die ihr Leben der Aufklärung und dem Kampf gegen den Hass in Europa gewidmet haben, fast übersehen.

Im Alter von 96 Jahren ist die aus Griechenland stammende Esther Cohn gestorben. Sie konnte aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau fliehen und erzählte ihr Erlebtes über viele Jahre hinweg an Gymnasien.
Cohen gehörte der alten jüdischen Gemeinschaft der Romaniote an, die 2000 Jahre lang überlebt hatte, bevor sie von den Nazis fast ausgerottet wurde. Ioannina war ein wichtiges Zentrum der römischen Juden, in dem vor dem Holocaust etwa 1800 Menschen lebten. Cohen hatte zwei Kinder.

Maurice Cling wurde als Sohn rumänischer Juden geboren, der nach Frankreich floh. Er war Linguist und Englischlehrer und starb am 23. November 91-jährig in Paris.
Als erfahrener Dozent und begabter Schriftsteller sprach er oft an Gymnasien vor Teenagern. Viele von ihnen konnten sich leicht mit Clings Geschichte identifizieren, da er 15 Jahre alt war, als die Polizei ihn am 20. Mai 1944 in seiner Schule abführte.
Cling wurde mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Willy in das Internierungslager Drancy gebracht. Die Familie wurde nach Auschwitz deportiert, wo die Nazis die Eltern bei ihrer Ankunft ermordeten. Cling wurde nach Dachau verlegt und dort von amerikanischen Truppen befreit. Er hatte vier Kinder.

Nachdem er tagelang auf einem Todesmarsch von Auschwitz aus unterwegs war, fand Paul Sobol, der am 17. November 94-jährig in Brüssel starb, während eines Luftangriffs der Alliierten, die Kraft zur Flucht. Er war 18 Jahre alt. Vor seiner Gefangennahme hatten Sobol und seine Familie vier Jahre lang im von den Nazis besetzten Brüssel versteckt gelebt. Die Nazis ermordeten seine Eltern und seinen jüngeren Bruder, aber seine Schwester überlebte.
Erst viele Jahre nach dem Krieg begann Sobol über den Krieg zu sprechen. Für seine Aktivitäten an Schulen und Holocaust-Gedenkfeiern würdigten ihn die lokalen Medien als «Hüter der Erinnerung». Sobol hatte zwei Kinder.

Renzo Gattegna, der am 10. November am Coronavirus starb, sprach nicht nur vor jungen Menschen über den Holocaust, sondern half auch beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in Italien. Gattegna leitete bis 2016 zehn Jahre lang die Union der jüdischen Gemeinden Italiens. Obwohl er 1938 geboren wurde, «begann ich 1944 zu leben», sagte er in einem Interview. Seine frühe Kindheit war eine Zeit der Angst, des Mangels und der Ungewissheit, als seine Familie durch die Vororte Roms zog von einem Versteck zum nächsten. Es gelang ihnen zu fliehen, bevor faschistische Banden auftauchten und ihr Haus plünderten. Gattegna hatte zwei Kinder.

Vor seinem Tod am 6. November in Moskau war Michail Schwanetski für die Russen das, was Jackie Mason für die Amerikaner ist: ein Aushängeschild der Stand-Up-Comedy. Aber Schwanetski, der sich als Jude outete, operierte in der Sowjetunion unter einem der repressivsten Regimes des 20. Jahrhunderts. In einer selbstironischen Art und Weise kommentierte er das Alltagsleben in Russland. Er war unpolitisch, und dennoch immer mit gerade so viel Gesellschaftskritik bestückt, wie man in jenen Jahren öffentlich äußern konnte.
Von seinem Geburtsort Odessa wurde Schwanetski mit seiner Familie nach Russland evakuiert, bevor die vorrückende Wehrmacht seine Heimatstadt eroberte und seine Freunde aus der Kindheit und viele Verwandte ermordete. Bis zu seiner Pensionierung im letzten Monat trat Schwanetski jahrzehntelang auf. Er hat viele Auszeichnungen erhalten, darunter den Verdienstorden für das Vaterland im vergangenen Jahr. Er hatte fünf Kinder.

Der pensionierte Polizist, Politiker und Holocaust-Gedenkaktivist Justin Sonder starb am 3. November im Alter von 94 Jahren in Chemnitz. Nach seiner Rückkehr von Auschwitz nach Deutschland begann Sonder sein Leben dem Wiederaufbau derjenigen Gesellschaft zu widmen, die den Nationalsozialismus geschaffen hatte. Er wurde Polizeibeamter, nur sechs Monate nachdem ihn die US-Truppen von einem Todesmarsch von Auschwitz nach Deutschland befreit hatten. Seine Mutter und 21 seiner Verwandten wurden im Lager ermordet.
Sonder wurde Beauftragter für schwere Verbrechen. Nach seiner Pensionierung 1985 war er ab 2009 vier Jahre lang als Abgeordneter der Linkspartei Die Linke im Bundestag tätig. 2016 sagte er im Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning aus, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden war.
Sonder sprach jahrzehntelang in Ostdeutschland vor Gymnasiasten über den Holocaust, wo die extreme Rechte wieder auflebt. Er hatte drei Kinder.

Foto:
Justin Sonder
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. Dezember 2020