Igor Levit im Dannenroder ForstAm Dannenröder Forst offenbart sich der Kampf um die Zukunft

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eine getragene, schöne Melodie, das irische Volkslied „Danny Boy“, erklang am Rand des gerodeten Teils des Dannenröder Forsts.

Es vertrieb für kurze Zeit die entstandene Depression und ließ Zukunftshoffnung aufkommen. Der weltbekannte Pianist Igor Levit spielte es auf einem herbeigeschafften Klavier, das inmitten dieser gewaltsam entstandenen Naturruine ein optisches Zeichen setzte. Das Lied war sein Dank an die Aktivisten. "Ihr habt eine Situation nicht nur wachgehalten, ihr habt sie mit neuem Leben gefüllt."

Eingeladen hatten ihn Greenpeace und "Fridays for Future". Der prominente Künstler engagiert sich bereits seit längerem für Klimaschutz, ergreift Partei für diskriminierte Flüchtlinge und bezieht dezidiert Stellung gegen Antisemitismus. 2015 bezeichnete er einen Politiker der AfD als „widerwärtigen Drecksack“, sprach den Mitgliedern dieser Partei das Menschsein ab und meinte damit jene Eigenschaften, die einen umsichtigen und ehrenwerten Menschen ausmachen.
Für die gesammelte deutsche Reaktion war das Anlass, sich auf Levit einzuschießen; er erhielt mehrere Morddrohungen. Im Oktober 2020 fühlte sich der Musikkritiker der „Süddeutschen Zeitung“, Helmut Mauró, dazu berufen, Levit die künstlerischen Qualitäten abzusprechen. Dieser überzeuge längst nicht mehr durch sein Spielen, sondern nur noch durch seine einseitigen politischen Aktivitäten. Levit, der einer jüdischen Familie entstammt, verfolge eine „Opferanspruchsideologie“, der er auch das Bundesverdienstkreuz zu verdanken hätte. Insbesondere die Springer-Presse, aber auch diverse profilsüchtige Schreiber, die für ihre rechtslastigen Positionen hinreichend bekannt sind, stimmten in das Geheul der Untalentierten ein.

An Levits Seite im Matsch des Forsts stand die Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Sie wies darauf hin, dass die Auseinandersetzung um das Waldstück zu häufig reduziert werde auf einen Konflikt zwischen Aktivisten und Polizisten. Doch tatsächlich sei es der Versuch, Ökosysteme als Lebensgrundlagen der Menschen zu verteidigen.

Eigentlich hätte im Dannenröder Forst die Stunde der gesamten Grünen schlagen müssen, und nicht nur die einzelner Mitglieder wie Luisa Neubauer und Igor Levit. Aber zumindest der hessische Ableger dieser Partei sieht sich nicht dazu in der Lage, den Bau einer Autobahn zu verhindern, weil dieser bereits vor 40 Jahren geplant und gemäß den geltenden gesetzlichen Bestimmungen auch genehmigt wurde. Ökologische Erwägungen, die erst im Zuge eines neuen Umweltbewusstseins und einer sich immer deutlicher abzeichnenden Klimakatastrophe aufkamen und die nicht zuletzt auch ethische Fragen aufwarfen und immer wieder neu aufwerfen, werden aus formalrechtlichen Gründen nicht mehr angestellt. Das nennt man wohl die Heiligsprechung der herrschenden Verhältnisse.

Wer so argumentiert, rechtfertigt unterschiedslos alles, was sich im Lauf der Menschheitsgeschichte durchsetzen konnte. Selbst dann, wenn es gegen alle Vernunft oder nur durch die Gewalt der Mächtigen möglich war. So setzte die systematische Zerstörung der natürlichen Umwelt spätestens mit Beginn der Industrialisierung ein, die bekanntlich noch länger als 40 Jahre zurückliegt. Und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (z.B. die Sklaverei) lässt sich bereits in sämtlichen Ländern der Antike nachweisen, ist aber vermutlich noch älter, als es von der überlieferten Geschichtsschreibung festgehalten wurde.

Klimakatastrophe, Vergiftung von Luft, Böden und Gewässern, Artensterben oder pandemische Seuchen: Der Mensch gefährdet sich mehr, als sämtliche Naturkatastrophen das bislang vermocht haben. Im Verkehr, vor allem im Straßenverkehr, sowie in Energiegewinnung und Energieeinsatz sammeln sich die verschiedenen Gefährdungspotenziale und drohen unkalkulierbar zu werden. Jede neue Straße, die ohne ökologische Verträglichkeitsprüfung gebaut wird, trägt Elemente der Zerstörung in sich. Deswegen ist die Leichtfertigkeit, mit der nach wie vor neue Autobahnen und andere Schnellstraßen für nicht zukunftsfähige Beförderungsmittel gebaut werden, nicht länger zu rechtfertigen.

Würden die Grünen ihre Haltung zum Ausbau der A 49 endgültig zum Maßstab ihres Handelns machen (ihr Ja zur Erweiterung des Frankfurter Flughafens und die Ablehnung des Festfrierens der Wohnungsmieten in Frankfurt lässt das befürchten), avancierten sie endgültig zur Partei des sich selbst kontrollierenden Neoliberalismus: Alles, was besteht und was auf legale Weise neu und unabhängig von seiner ethischen Wertigkeit beschlossen wurde, könnte dann politisch nicht mehr zur Disposition gestellt werden. Nur durch nachlassende Profitabilität würde sich alles und jedes selbst infrage stellen und schließlich mit betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit im Sinn einer Marktbereinigung selbst auslöschen (inklusive der Menschen, der sozialen Beziehungen und Errungenschaften). Der grüne Sozialdarwinismus würde lediglich die politischen Rahmenbedingungen (faktisch die Festschreibung des Primats des Kapitalismus) definieren, innerhalb derer sich dieser Prozess der natürlichen Auslese zu vollziehen hätte.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Grünen zunehmend als Partei ohne Programm, weil es ihnen nicht mehr um Inhalte, sondern ausschließlich um die Beteiligung an der Macht geht, was letztlich auf die Schaffung persönlicher Pfründe hinauslaufen wird. Die anderen Parteien liefern dafür hinreichend Beispiele.

Wer die vergleichsweise marginale A 49 nicht verhindern kann oder will, wird Größeres erst recht nicht durchsetzen, beispielsweise einen Klimaschutz ohne Wenn und Aber. Die Corona-Pandemie entlarvt seit Monaten die Defizite, mit denen zu leben, wir uns angewöhnt haben. Der bewusste Teil dieser Gesellschaft braucht keine Grünen, welche die Lage lediglich wortreich interpretieren, sondern solche (im Bündnis mit anderen Progressiven), die sie zu verändern wagen.

Foto:
Der Pianist Igor Levit am Kahlschlag durch den Dannenröder Forst
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