DIE ZEHN VOM FLOSS - Teil 1/3

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Als Nachrichten-Redakteur hatte ich es in Zeiten des Indochina-Krieges nur mit Meldungen von Kriegsschauplätzen und von Verhandlungstischen zu tun. Das reichte mir nicht.

Ein Journalistenpreis von "Terre des Hommes" gab mir 1973 Gelegenheit, selber Erfahrungen mit den Menschen in Vietnam zu machen – vor allem mit Kindern, ihr Leiden und ihr kleines Glück standen in den Jahren danach immer wieder im Mittelpunkt von Reisen nach Vietnam, Laos, Kampuchea. Ich lernte zu unterscheiden zwischen professioneller Nachrichtensuche und persönlicher Betroffenheit. Dabei hat mir besonders Michael Geyer geholfen, der ab 1976 mit mir zusammen unterwegs war, als Freund. Ihn hatte bei einer späteren Vietnam-Reise auch jener vietnamesische Diplomat kennengelernt, der uns beiden – privat – 1980 zwei Visa für Kampuchea vermittelte. Vietnamesische Truppen hatten da gerade von dort die Roten Khmer vertrieben. ...

Wir hatten in den Tagen vorher oft darüber gesprochen, was uns wohl in diesem Land erwarte. Wir hatten überlegt, wie wir es drei Wochen aushalten würden in einem Land, von dem wir gehört hatten, dass nach vier Jahren einer beispiellosen Terrorherrschaft jetzt Totenstille herrschen soll. Ein ganzes Volk hungert aus, und die Welt sieht zu, war den spärlichen Nachrichten über Kampuchea zu entnehmen. Nun wollten wir uns selbst Nachrichten verschaffen, zu begreifen versuchen, wie das kleine Volk der Khmer – Nachbar der Vietnamesen, Thailänder und Laoten – in die hoffnungslose Lage geraten ist. Es sind bange Erwartungen, mit denen wir die politische Erkundungsreise nach Südostasien antreten. Auch Ängste – wir haben Elendsbilder im Kopf, jetzt werden wir der alltäglichen Wirklichkeit des Elends selbst nahe kommen, nicht mehr bequem auf Distanz gehen können, werden betroffen sein, wollen nichtsdestoweniger journalistisch vorgehen, prüfen, registrieren. Kampuchea – die Zustände in dieser Ecke der Welt gehen uns an. Auf dem Flug lesen wir einen Brief, den uns Petra bei der Abreise zugesteckt hat. Von Bert Brecht hat sie uns was aufgeschrieben ...
 

Über die Berge
Fliegt der Mensch wie nichts
Groß sind seine Werke
Doch am Brot für alle, da gebrichts,
Menschenskind!
Dass nicht alle satt sind!

Über die Kontinente
Spricht der Mensch von Haus zu Haus
Hunderttausend Hände
Strecken sich zueinander aus
Menschenskind!
Wenn sie erst beisammen sind!

Journalisten aus einem der reichsten und bestgestellten Länder auf Reportage-Besuch in einem Weltnotstandsgebiet. Wir haben uns fest vorgenommen, nicht nur politische Umstände, ökonomische Daten und historische Fakten abzufragen. Die Absicht ist, unmittelbaren Zugang zu finden zum alltäglichen Leben der Menschen, die Existenzbedingungen und Lebensumstände irgendeiner Familie ganz aus der Nähe kennenzulernen. Also nicht sich zufrieden geben mit der Beschreibung des Allgemeinen. ...


Eines Abends haben wir gerade Tonaufnahmen am Ufer des Mekong beendet, dort, wo der Tonle Sap-Fluss einmündet, auf der Höhe des königlichen Palastes. Wir sitzen auf den Stufen des steilen Uferhanges, unten hat ein Bambusfloß festgemacht. Unter einem halbrunden Dach aus Palmblättern hocken Menschen in der Abenddämmerung. Wir steigen zu ihnen hinab, unsere Dolmetscherin folgt uns. Über einen Holzsteg dürfen wir an Bord kommen.

Es sind zehn Personen – eine große Familie, denken wir. Seit zwei Tagen liegen sie hier mit ihrem Floß, erfahren wir durch die Dolmetscherin, und dass sie bis 1975, bis zur Vertreibung aller Bewohner Phnom Penhs durch die Pol Pot-Truppen, in dieser Stadt gelebt haben. Wir versuchen, unsere Neugier zu erklären, versuchen ins Gespräch zu kommen, und haben doch das Gefühl, zu stören. Ein alter Mann hat sich von seiner Matte hinten unter dem Dach erhoben und zu uns gesetzt, er fängt an, zu erzählen:

"Im Rundfunk habe ich gehört, dass jeder nach Hause zurückkehren konnte. Ich wollte auch gehen, aber wir hatten keinen Reis, wir mussten erst welchen anpflanzen. Dort, wo wir waren, in das Dorf kommen bis heute noch Pol Pot-Truppen und verlangen Essen und Verpflegung. Sie verlangen auch Steuern. Das ist ungefähr 15 Kilometer von der Stadt Kratie entfernt, auf der anderen Uferseite. Wir wollten zurück nach Phnom Penh, aber wir hatten keine Möglichkeit, kein Geld. Da haben wir bei den Leuten im Dorf um Bambus gebeten und dann dieses Floß gebaut. In dieser Gegend haben viele Flöße gebaut, wir waren unter den letzten. Zusammen mit dem Sammeln des Bambus hat es vier Wochen gedauert, bis das Floß fertig war. Wir hatten noch etwa fünfzig Kilo Reis. Die Fahrt hat dann noch ‘mal einen Monat gedauert. ... ... Wir hatten ein Dokument von den Dorfbehörden, unterwegs gab es auf dem Fluss öfter Kontrollen. Da wurde in die Luft geschossen, damit wir anhalten. Aber wie kann man mit einem Floß anhalten? Da war zum Glück ein Boot, an dem wir festmachen konnten, und dort konnten wir unsere Papiere vorzeigen. ... ... Und immer musste jemand am Ruder stehen, Tag und Nacht, die Erwachsenen und auch die Kinder. Als wir nach Phnom Penh zurückkamen, war unser altes Haus schon belegt. Ich hoffe, dass das Volkskomitee uns jetzt hilft, ein Haus zu finden und auch Arbeit für die Kinder!"

Wir möchten wissen, wie das funktioniert hat, dass heute schon wieder ungefähr dreihunderttausend Menschen in der Hauptstadt leben. Am nächsten Morgen treffen wir Malcolm Harper, den Mann von Oxfam, der die Anfänge der Wiederbesiedlung Phnom Penhs miterlebt hat:
"... Lange Zeit hat die Regierung den Rückstrom in die Städte tatsächlich unter Kontrolle halten wollen., und zwar auch wegen der riesigen Gesundheitsgefahren. Sie haben ja sicher den Abfall gesehen, der noch überall in Phnom Penh herumliegt. Wenn man in dieser Situation unkontrolliert Menschen in die Stadt hereinlässt, schafft man erhebliche gesundheitliche Risiken und auch andere Probleme."

Am selben Tag haben wir uns entschlossen, die Rundreisepläne fallen zu lassen. Wir wollen die Geschichte dieser zehn Menschen auf dem Floß erfahren. Als wir das zweite Mal zu ihnen kommen, ist aus ihrer schwachen Hoffnung Verzweiflung geworden: Sie sollen in den nächsten Tagen ihren Liegeplatz verlassen, keine Chance, noch in die Stadt hineinzukommen.

Wir treffen die Frau des alten Mannes und fragen sie, was sie unternommen hat: "Ich war schon ‘mal dort bei der Behörde, aber ich habe den Mann nicht getroffen. Dann war ich zusammen mit meiner Tochter in einer leeren Wohnung, die haben wir schon saubergemacht. Aber dann hat man uns gesagt: Es geht doch nicht, die Wohnung wäre schon vorbereitet für Angestellte eines Ministeriums. Jetzt weiß ich nicht mehr, wohin wir noch gehen sollen... (sie schluchzt) Der Mann hat mir gesagt, ich soll zurück aufs Land gehen und Reis anpflanzen. ... Aber ich weiß doch nicht, wohin. ... Während der Pol Pot-Zeit hat man gesagt, nur wer arbeitet, kriegt was zu essen, wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen. Meine Kinder haben in diesen Jahren auch gearbeitet, und bei der Reisverteilung haben sie nur den halben Anteil bekommen! ... Wir sind hier, um Arbeit zu suchen, etwas, was meine Kinder tun können..." Sie haben noch einen halben Sack Reis.

Hinten auf dem Floß hockt immer einer der Söhne mit einer Angel. Fisch und Reis kochen sie auf einer Feuerstelle auf dem Heck unter offenem Himmel – eine Kiste mit Sand, einige große Steine, ein Blech als Windschutz. Feuerholz ist an beiden Seiten des Floßes aufgestapelt, mitgebracht von unterwegs, ein kleiner Reichtum. Manchmal verkaufen sie ein paar Scheite oben hinter dem hohen Ufer, dann haben sie ein bisschen Geld für Gemüse.
Dieses hohe Ufer ist wie ein hoher Wall, den sie nicht überwinden können, um endlich wieder in die Stadt zu kommen. Sie versuchen es immer wieder. An einem Nachmittag begleiten wir zwei der Frauen vom Floß. Auf dem Kopf tragen sie Körbe mit gepresstem Tabak, der zweite kleine Reichtum – mitgebracht aus dem Ort, wohin sie vertrieben waren. Sie machen sich auf den Weg zum Markt, dieser Markt von Phnom Penh, auf dem schon wieder fast alles zu kaufen ist, bunte T-Shirts und fette Nudelsuppen, geschmuggelte Waren aus Thailand und Früchte aus der Provinz.

Dazwischen hocken sie sich, und sicherlich macht es unsere Anwesenheit, die Anwesenheit zweier Europäer mit all ihrem technischen Aufnahmegerät, dass sich rasch Menschen ansammeln, auch Kunden, sogar Großhändler, wie sich herausstellt. Einer dreht sich vom Tabak eine Probezigarette, dann kauft er das gesamte Angebot – auf einen Schlag, und ein Geldbündel wechselt den Besizer.
Und am nächsten Morgen ist wieder ein klein bißchen Hoffnung gewachsen: Oberhalb des Floßes auf dem hohen Ufer haben sie im Schatten einer Kokospalme einen kleinen Stand aufgebaut, ein alter Schreibtisch aus einem Trümmerhaus, darauf in Körben Melonen, Mangos, Ananas, Früchte zum Verkauf, besorgt für das neue Geld bei einem der vielen Bauern, die morgens mit Ochsenkarren über die einzige Mekong-Brücke vom Land   hereinkommen. Ist das das erste Stück vom wiederaufgenommenen Lebensfaden?

Die alte Frau vom Floß erzählt: "Ich bin in Phnom Penh zu Hause und habe früher auf dem Markt als Gemüseverkäuferin gearbeitet. Mein Sohn hat damals hier sein Abitur gemacht. Ich habe außerdem zwei Töchter, die eine ist in Batambang verheiratet, die andere hat in Phnom Penh bei der Post gearbeitet. Sie war während der Pol Pot-Zeit bei mir und der Familie, getrennt von ihrem Mann. Der ist Betriebsleiter und war während der Pol Pot-Zeit bei seinen Eltern in Pursat. Als wir Phnom Penh verlassen mußten im April 1975, waren viele aus der Familie auf dem Marsch dabei, ich glaube, wir waren zwanzig, mein Schwiegersohn auch, eine Nichte und ein Neffe, der bei der Militärpolizei war. Einen Monat lang sind wir von Phnom Penh bis nach Kratie zu Fuß unterwegs gewesen. Als wir in Speu ankamen, in der Provinz Kompong Tscham, kamen Pol Pot-Soldaten und wollten wissen, wer von uns beim Staat gearbeitet hätte. Die Leute würden gebraucht, sie müssten zurück. Wir haben gar nicht erst versucht, uns herauszureden. Mein Neffe gab gleich zu, er sei von der Militärpolizei. Und meine Tochter sagte, dass sie bei der Post gearbeitet hat. Beide bleiben hier, wurde erklärt, die anderen gehen weiter. Meine Mutter, die schon achtzig ist, hat das auch alles mitbekommen. Sie konnte nicht mehr, die Füße wollten nicht. Wir mussten sie in Speu zurücklassen, die Tochter blieb bei ihr. Wir anderen mussten weiterlaufen. Die Verpflegung mussten wir uns unterwegs irgendwie organisieren. Das Essen war miserabel, meistens nur eine dünne Suppe mit Reis. Zu trinken hatten wir auch nichts. Das kleine Kind meiner Tochter aus Battambang wurde jeden Tag schwächer. Es bekam Fieber und ist dann gestorben. ...

ERZÄHLUNG FÜR BILDER IM KOPF

... Was soll ich Ihnen noch erzählen? Irgendwann haben wir dann an einer Stelle übernachtet unter Bäumen – da verlangten die Pol Pot-Soldaten am anderen Morgen, wir sollten unsere Sachen da liegen lassen, die würden uns später gebracht, wir könnten jetzt mit Ochsenkarren weiterfahren. Wir waren aber misstrauisch und wollten uns nicht darauf einlassen. Das haben wir denen auch gesagt, daßsswir uns weigern, mehrfach. Aber die blieben hart. Meine Tochter hat dann noch versucht, ein paar Sachen an sich zu nehmen. Dann wurden wir alle mit dem Fuhrwerk weitergeschafft. Mein Sohn wurde krank, er war sehr erschöpft, wir hatten keine Medizin. ... Er ist gestorben. Sie brachten uns in ein Dorf an der Grenze der Provinz Totonakri. Wir wurden sofort eingeteilt zur Arbeit an einem Wasserkanal. Die Kinder kamen in eine mobile Brigade und wurden losgeschickt. Die hatten immer woanders zu arbeiten und waren meist weg. Die älteren Leute blieben im Dorf. Die Arbeit ist uns sehr schwer geworden. Wir hatte ja auch nicht genug zu essen. ...

... Für meine Familie, wir waren noch zehn Personen, gab es zu jeder Mahlzeit so eine Milchbüchse voll Reis, das war ungefähr ein halbes Pfund für alle zehn! Wir haben uns dann immer grüne Bananen besorgt und in den Reis gekocht. Viele waren krank. Mein Mann auch. Die Kinder haben wir nur alle drei oder vier Monate einmal gesehen. Sie waren dann für einen Tag im Dorf. ...

... Wir mussten nicht nur am Tag arbeiten, auch einige Stunden in der Nacht. Sie schickten uns immer wieder auf die Reisfelder. Wir mussten kämpfen, um überhaupt weiter leben zu können. Hier, mein Junge, der hat sich gequält bei der Arbeit, der musste schuften. Irgendwann hat er sich den Arm gebrochen. Jetzt hat er nicht mehr viel Kraft in dem Arm, kann ihn nicht mehr so gebrauchen wie früher. Als er krank wurde, haben die Aufpasser von Pol Pot gesagt, er soll nicht so tun, als ob er krank wäre, er soll mal kräftig arbeiten, sonst gäbe es nichts zu essen. Mein anderer Sohn, der konnte schreiben, der konnte sogar etwas Englisch und Französisch. Den haben die Pol Pot-Leute in die Verwaltung geholt. Der sollte ihnen bei der Verteilung helfen im Dorf. Dabei hat er natürlich immer genau gesehen, dass die Leute im Dorf zu wenig zu essen bekamen. Und deshalb hat er angefangen, heimlich mehr zu geben. Als das herauskam, haben sie behauptet, er wäre ein Agent. Er sei vom CIA oder KGB. Und da war es aus für ihn. Sie haben ihn mit elektrischem Strom gequält und gefoltert. Immer wieder wurde er geschlagen. Am Ende haben sie ihn eingegraben, lebendig in der Erde eingegraben. Er war 22 Jahre alt. ... Mein Sohn war ein aufrichtiger Junge, er hatte Mitgefühl mit den Menschen, er hat ihnen geholfen. Deshalb ist meine Trauer nicht so schwer. Ich weiß ja, dass er vorbildlich gehandelt hat. ...

... Als das alles passierte, war ich auf einer Arbeitsstelle weiter weg vom Dorf. Als ich hörte, dass sie meinen Sohn bestrafen wollten, wollte ich von der Arbeit weg. Ich habe gesagt, sie sollen mich zu meinem Sohn lassen, ich wollte ihn sehen. Das wurde mir verboten. Da habe ich gesagt, wenn sie mich nicht lassen, werde ich mich umbringen. Da haben sie nachgegeben. Ich durfte gehen. Im Dorf habe ich die Leute gefragt, wo mein Sohn ist. Einige wussten, was passiert war und haben mir alles erzählt. Weinen durfte ich da nicht, weil nicht alle wissen durften, dass er aus unserer Familie war! Zwei Jahre später habe ich erfahren, dass meine Mutter noch lebte, die war schon über achtzig, und meine Tochter war noch bei ihr mit ihrem Kind. Ich habe alle drei auch in unser Dorf geholt. Die Pol Pot-Leute haben aber erklärt, dass sie nicht bleiben dürfen. Sie haben befohlen, dass sie woanders hin müssen. Sie wurden dann in eine Kautschuk-Plantage gebracht. Wir haben nichts mehr von ihnen gehört. Später habe ich erfahren, dass sie nicht mehr leben."

Es ist Nacht, auf dem Floß brennt nur eine Fackel. Wir haben die Dunkelheit für diesen Versuch gewählt, das Schicksal der Zehn zu erfahren. Wir wissen jetzt, dass es nicht die Überlebenden einer großen Familie sind – es sind die Reste von drei Familien. Es entwickelt sich kein Gespräch, es sind Monologe, ab und zu durch Erinnerungen eines anderen aus dem Kreis um uns ergänzt. Der alte Mann und die Gemüsefrau, beide verwitwet, heirateten 1965. Er brachte seinen heute 34 Jahre alten Sohn in die Ehe, dessen Frau hat am Morgen auf dem Markt eine Tante getroffen und von ihr erfahren, dass ihre Eltern tot sind. Sie ist mit der Tante mitgegangen, um mehr zu erfahren über ihre Angehörigen – wir treffen sie erst am Ende unseres Aufenthaltes wieder. Von der Marktfrau sind noch vier halberwachsene Kinder auf dem Floß – drei Jungs und ein Mädchen.
Und dann lebt hier noch eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, die auch aus Phnom Penh stammt, die anderen acht aber erst beim Floßbau kennengelernt hat.

ERZÄHLUNG FÜR BILDER IM KOPF

Die junge Frau vom Floß erzählt: "Mein Mann war bei mir, als die Pol Pot-Leute kamen. Sie sagten, wir müssten raus aus der Stadt, für ungefähr drei Tage. Wir wollten nicht gehen. Da hat der eine seine Pistole gezogen, damit gedroht und gesagt: Dann müßt ihr hierbleiben! Wir haben Angst gehabt, daß er uns erschießt und sind gegangen. Wir waren unterwegs mit unseren drei Kindern und noch einem Baby. Mein Bruder war auch dabei. In einem Vorort von Phnom Penh wollten wir übernachten, aber die Pol Pot-Leute haben gesagt, wir dürfen da nicht bleiben, wir sollten immer weitergehen. An einer anderen Stelle wollte ich Reis kochen für die Kinder, aber sie haben uns weitergetrieben. Wir kamen in die Berge von Tuol Kong in der Provinz Kratie. Am ersten Tag hatte jeder 250 Gramm Reis bekommen, am nächsten Tag war es nur noch die Hälfte, später haben wir für uns sechs insgesamt nur noch 250 Gramm Reis erhalten. Das war nicht genug – wir mussten ihn mit viel Wasser kochen. Mein Mann arbeitete im Wald, er musste Holz hacken. Eines Tages bekam er starke Kopfschmerzen. Er blieb fünf Tage weg von der Arbeit. Da kam eine Krankenpflegerin von den Pol Pot-Leuten und fragte, was er hätte. Er sagte, ich habe Kopfschmerzen. Sie gab ihm eine Spritze. Danach konnte er nicht mehr sprechen, es ging ihm schlechter – und ein paar Stunden später starb er. ...
Meine Kinder hatten nichts zu essen. Ihre Körper waren aufgeschwollen durch den Nahrungsmangel. Sie mussten zu Hause bleiben, während ich arbeitete. Eines Tages kam ich zurück – da waren die beiden Mädchen tot. ... Mein Bruder heißt Ji, er war 16 Jahre alt, und er wurde wegen Nahrungsmangel von Tag zu Tag schwächer, schließlich starb auch er. ... Ich habe jetzt noch keine Verwandten wiedergetroffen, auch nicht von meinem Mann. Ich war bei unserem früheren Haus, aber auch da habe ich keine Bekannten getroffen. Meine Eltern sind tot. Ich möchte jetzt hier Arbeit finden, irgend etwas – ich kann nähen, ich muß etwas verdienen, um meine Tochter weiter zu ernähren."

Ihr Kind haben wir selten lachen sehen, nur einmal war es ausgelassen, als es sich am Rand des Floßes kübelweise Wasser über Kopf und Körper goss. Einmal ließen wir die Dolmetscherin fragen, ob die Kleine ein Lied für uns singen würde – für unser Tonbandgerät. Sie kann nicht singen, ließ uns die Mutter übersetzten, sie hat es nie gelernt, aber wenn wir wollten – sie kann ein Lied lernen. ... Wir haben nie eins gehört von diesem kleinen Mädchen, das die meiste Zeit im Schatten des Palmblattdaches liegt, kraftlos – krank. ...

Das sind zehn von vier Millionen Menschen, die die Pol Pot-Zeit überlebt haben, und den Krieg, der das Land zuvor schon zum Opfer fremder Interessen gemacht hatte.

Morgen, im zweiten Teil, werden Sie erfahren, wie es weiterging, damals, als Michael Geyer und ich konfrontiert waren mit dem Schicksal der zehn Menschen auf dem Bambusfloß am Ufer des Mekong.


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