Ketzerische Gedanken zum Advent I
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Den Mut zur Unvollkommenheit forderte im August 1984 der damalige Kardinal Joseph Ratzinger und spätere Papst Benedikt VI von seiner Kirche.
Das war zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik Deutschland die Diskussionen um den NATO-Doppelbeschluss immer noch anhielten. Zwei Jahre zuvor, am 10. Juni 1982, hatte eine große Friedensdemonstration auf den Bonner Rheinwiesen mit 500.000 Teilnehmern stattgefunden. Am 29. Oktober 1983 demonstrierten in Den Haag 550.000 Friedensaktivisten aus vielen Ländern Westeuropas. Und im Herbst 1983 bildeten sich Menschenketten von Stuttgart bis Neu-Ulm, um auf diese Weise gegen die Aufstellung von Pershing II-Raketen zu protestieren. Ab 1980 hatte sich in der DDR eine christliche (überwiegend evangelische) Friedensbewegung konstituiert, deren Motto der Schrift des Propheten Micha entlehnt war (Kapitel 4, Verse 1 – 4): „Schwerter zu Pflugscharen“. Als Symbol verwendete sie die Bronzestatue von Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch, welche die Sowjetunion 1959 der UNO geschenkt hatte. Letzterer Umstand erschwerte der DDR-Führung eine offene Gegnerschaft zu dieser Initiative. Der Evangelische Kirchentag im Juni 1983 in Hannover stand unter dem Motto „Umkehr zum Leben“ und wurde inhaltlich von der Friedensfrage bestimmt. Optisch herrschten auf dieser Großveranstaltung lila Halstücher vor, welche die Aufschrift „Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen“ trugen. Bereits 1982 hatte sich das Leitungsgremium des Reformierten Bundes gegen atomare Massenvernichtungswaffen ausgesprochen und die Friedensfrage zu einer Bekenntnisfrage erhoben (Status Confessionis).
Nicht alle evangelischen Landesbischöfe teilten diese Überzeugungen. Zeitweilig kam es zu Proklamationen einer unpolitischen Kirche, die sich aus dem Streit der Welt herauszuhalten habe. Am Rande des erwähnten Hannoverschen Kirchentags hielten auf einer von Evangelikalen organisierten Veranstaltung der hannoversche Landesbischof Eduard Lohse und der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht Reden. Auch die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, Mitglied des Kirchentagspräsidiums, sprach sich gegen politische Themen auf Kirchentagen aus.
Für die Spitzen der Katholischen Kirche indes war die Welt, so wie sie war, anscheinend die denkbar beste. Kardinal Ratzinger fasste diese Überzeugung in einer philosophisch-theologischen Betrachtung zusammen, die am 4. August 1984 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschien. Sie war mutmaßlich an das strukturkonservative Bürgertum gerichtet, das sich in einer rasch wandelnden Gesellschaft von Verdrängungsängsten gequält fühlte und nach Selbstbestätigung suchte. Bestätigung des eigenen Selbst aber liegt sehr dicht bei Selbstgerechtigkeit. Und darum genau ging es; Selbstgerechtigkeit einer Kirche, einer Bevölkerungsschicht und einer Gesellschaftsordnung, die sich allesamt als der Weisheit letzter Schluss empfanden. Und dies mehrheitlich bis heute tun.
Doch Ratzinger lieferte in seinem Beitrag sowohl seiner Kirche als auch seiner laizistischen Klientel schlechte Argumente. Der katholische Kirchenfürst hätte die Gedanken des evangelischen Pfarrers Dietrich Bonhoeffer bedenken sollen, der während der NS-Diktatur den Begriff der „billigen Gnade“ in die theologische Diskussion gebracht hatte. „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche“, schrieb er aus der NS-Haft, „billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders...billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben.“
Möglicherweise aber ordnet Joseph Kardinal Ratzinger Bonhoeffer in die Kategorie des von ihm so benannten „scheinbaren Moralismus“ ein, „der sich nur mit dem Vollkommenen zufriedengeben will“ und deshalb von ihm unmoralisch geheißen wurde. Dabei hätten ihn aber schon beim Stichwort „Vollkommenheit“ Zweifel plagen müssen, hätte er doch bei Matthäus nachlesen (Kap.5, Vers 48) können: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Überdies befürchtete der Kardinal (ähnlich wie die Konservativen in den Kirchen der Reformation), dass „der Wahrheitsanspruch des Christlichen...sich zur politischen Intoleranz steigern“ könnte. Er schilderte die angeblichen Unzulänglichkeiten christlicher Theokratie-Entwürfe (oder was er dafür hielt) und verkündigte mit kühnem Federstrich, dass die „Demokratie ein Produkt aus der Verschmelzung von griechischem und christlichem Erbe“ sei und „daher auch nur in diesem Gründungszusammenhang überleben“ könnte.
Das ist historisch falsch, aber der Kardinal schien es für wahr und vor allem für richtig zu halten und somit band er das weltliche Reich Gottes an den Bestand einer Gesellschaftsordnung, die ihre Existenz nicht den antiken Staatsentwürfen und auch nicht den Aposteln und den Kirchenvätern, sondern vielmehr wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen verdankt, deren Triebkräfte Industrialisierung und menschliche Selbstbefreiung heißen und deren säkularer Grundzug unübersehbar ist.
Wer so dachte und mutmaßlich noch heute denkt, muss dem Neuen Testament zwangsläufig jede politische Theologie absprechen, denn für ihn gilt ja die Umkehrung: Die politischen Verhältnisse bringen ihre jeweilige systemlegitimierende und systemstabilisierende Theologie hervor. Der Staatsmann als Hoher Priester und umgekehrt.
Sicherlich beinhaltet das Neue Testament keine systematisch ausgebildete politische Theorie und ich möchte behaupten, dass es noch nicht einmal eine einheitliche Theologie aufweist. Kennzeichnend für diese Sammlung von Glaubenszeugnissen ist ja ihre Disparatheit, wie beispielsweise der evangelische Theologe Herbert Braun einmal treffend urteilte. Allerdings gibt es eine zweifache Gemeinsamkeit: Der geglaubte Gott offenbart sich in einem Vorgang der menschlichen Geschichte, dadurch erfährt das Diesseits eine Heilsbedeutung; denn Gottes „Wille geschehe im Himmel wie auf Erden“. Und: Das Gebot der absoluten Nächstenliebe zielt auf diese Welt, es umfasst die gesamte Wirklichkeit menschlicher Lebensgestaltung. Es fordert die von Ratzinger formulierte „ethische Anstrengung“, die aber nicht – wie der Kardinal meinte – statisch bleibt, sondern einen dynamischen Prozess in Bewegung setzt, welcher wiederum Strukturen hervorbringt, welche die Hoffnungen der Gläubigen (und der Ungläubigen) ein Stück nach vorn, in die Zukunft gerichtet, stabilisieren. Dabei ergeben sich auf jeder Stufe der Entwicklung neue ethische Entscheidungen. Der Spannungszustand zwischen dem göttlichen Anspruch und dem menschlichen Handelnwollen bzw. Handelnkönnen manifestiert sich je anders.
Der von Ratzinger geforderte „Mut zur Unvollkommenheit“ schriebe fest, was längst noch nicht feststeht bzw. abgeschlossen ist: Nämlich das Schicksal der Menschheit (positiv wie negativ) und damit zusammenhängend die Form der gesellschaftlichen Organisation.
„Alles was besteht, ist Wert, dass es zugrunde geht“ – so zitiert Friedrich Engels (in seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“) aus Goethes „Faust“ und kommt damit der Hegelschen Dialektik auf die Spur, die Kardinal Ratzinger gleich in zweifacher Weise sinnentstellend vereinfachte:
Die bisherige Geschichte wird weder von Links-Hegelianern (Anhängern der materialistischen Philosophie) noch von Rechts-Hegelianern (Anhängern der idealistischen Richtung) ausschließlich als Geschichte der Unfreiheit definiert. Das so genannte dialektische Gesetz der Negation der Negation weist auf jeder Stufe der Entwicklung die Notwendigkeit zur Veränderung auf, weil die Gesellschaft an unüberwindbare Widersprüche gelangt ist. Und auf jeder Stufe finden sich Elemente der vorangegangenen Ordnung wieder. In der Überwindung erhält dieser Vorgang der Erneuerung und Bewahrung seine philosophische und politische Bedeutung.
An anderer Stelle seiner Ausführungen spielte Ratzinger auf Hegels berühmten Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“ an (aus der Vorrede zu „Grundlinien einer Philosophie des Rechts...“). Aber dies bedeutet nicht die „Heiligsprechung alles Bestehenden, die politische Einsegnung des Polizeistaats, der Kabinettsjustiz, der Zensur“ (Friedrich Engels, s.o.), sondern Hegel beschränkt seinen Begriff von Wirklichkeit auf jene, „die (sich) in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit (erweist)“ (Hegel, Grundlinien, s.o.).
Ratzingers Aufruf zur „Wiederherstellung eines moralischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft“ war denn auch lediglich der intellektuell verbrämte Versuch, alte Herrschaftsstrukturen der Kirche und der Gesellschaft vor dem Verfall zu retten. In Anlehnung an ein Marx-Wort bleibt abschließend festzustellen, dass die hierarchische Kirche aus dem Gestern und die Profitgesellschaft aus dem Heute leben – Theologie und humane Wissenschaften aber das Morgen und Übermorgen vor dem Hintergrund der Historie zur Sprache bringen müssen.
Foto:
Konferenz katholischer Bischöfe
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Info:
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung eines Artikels, der am 31.8.1984 in der FAZ veröffentlicht wurde.