Zum 150. Geburtstag einer ungewöhnlichen Frau
Von Jörn Schütrumpf
Berlin (Weltexpresso) - Am 5. März gedenken fortschrittliche Menschen in aller Welt der deutschen Sozialistin Rosa Luxemburg, deren Geburtstag sich an diesem Tag zum 150. Male jährt. Der nachfolgende Artikel ist die deutsche Fassung eines Aufsatzes, den Jörn Schütrumpf zum 90. Todestag von Rosa Luxemburg für ein Sonderheft der französischen Zeitung »L’Humanité« geschrieben hat. Der Nachdruck an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Er ist Leiter der Fokusstelle Rosa Luxemburg der gleichnamigen Stiftung in Berlin. Die Redaktion
Rosa Luxemburg ist die unbekannteste Bekannte in Deutschland. Es gibt heute fast keinen Deutschen, der ihren Namen nicht wenigstens schon einmal gehört hat. Und fast alle kennen ihre Aussage aus ihrem Manuskript „Die russische Revolution“, dass die Freiheit die Freiheit des Andersdenkenden sei. Jedoch haben die meisten diesen Satz nicht verstanden.
Trotzdem suchen an jedem zweiten Sonntag, im Januar mit roten Nelken in der Hand, auf dem Berliner Sozialisten-Friedhof in Friedrichsfelde Zehntausende ihr Grab auf. Sie – und ab 1914 – Karl Liebknecht waren der Kopf der radikalen deutschen Linken. Beide wurden während des Weltkrieges – gegen Frankreich im Westen und Russland im Osten – in Haft genommen, weil sie gegen diesen Krieg kämpften. Vor niemandem hatten die Kriegstreiber in Deutschland so viel Angst wie vor Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Auf die Revolution vom November 1918 hatten beide weniger Einfluss, als sie gehofft hatten und als auch heute oft noch angenommen wird. Denn die deutsche Bevölkerung war zwar kriegsmüde, aber sie war nicht des Kapitalismus müde. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die mit ihrer Stellung gegen den Krieg berühmt geworden waren, verstanden nicht, dass die Arbeiter sich mit dem Ende des Krieges begnügten. Und die Arbeiter verstanden nicht, dass die Friedensfreunde Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nun den Krieg gegen den Kapitalismus führen wollten. Diese gegenseitige Verständnislosigkeit führte zu einer tiefen Entfremdung.
Als im Januar 1919 eine kleine Gruppe von Berliner Arbeitern zu den Waffen griff, waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an ihrer Seite, obwohl zumindest Rosa Luxemburg wusste, dass der Kampf aussichtslos war. Sie war in der gleichen Lage wie Karl Marx 1871, als die Pariser Commune ausbrach. Marx wusste, dass der Aufstand keine Chance besaß – trotzdem stand er an der Seite der Aufständischen, weil er sich sonst als Verräter gefühlt hätte.
Der Unterschied zwischen Marx und Rosa war: Er saß im sicheren London, sie saß aber im revolutionären Berlin – und wurde zusammen mit Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 von Soldaten ermordet.
Sie war eine Frau von 1,50 Meter, von Kind an hatte sie einen Hüftschaden, und ihre Gesundheit war im Gefängnis zerstört worden. Nach ihrer Verhaftung war sie in einem Berliner Nobel-Hotel gepeinigt worden. Nur mit einem Schuh hatten sie ihre Mörder aus dem Hotel gebracht und versucht, ihr mit einem Gewehrkolben den Kopf einzuschlagen. Anschließend wurde sie in ein Auto gestoßen und zu einem der großen Kanäle in der Berliner Innenstadt gefahren. Weil sie immer noch lebte, ermordete man sie mit einem Schuss in den Kopf, ihr Leib wurde mit Stacheldraht umwickelt und in den Kanal geworfen. Erst Ende Mai 1919 wurden die Reste ihrer Leiche gefunden. Zur Beerdigung am 13. Juni 1919 kamen Tausende Berliner.
Wegen dieses Todes wird Rosa Luxemburg bis heute verehrt. Von ihrem Leben hingegen wissen nur wenige Menschen. Von dem, was sie gewollt hatte, weiß selbst von denen, die sie an ihrem Grab ehren, kaum jemand etwas. Denn dieselben Menschen, die sie nach ihrem Tod auf einen Sockel stellten, wollten von der lebendigen Rosa Luxemburg nichts wissen. Und das hat letzten Endes mit Rosa Luxemburgs Haltung zu Lenin (und zum später verfemten Trotzki) zu tun. Denn von Lenin und seiner Anhängerschaft unterschied sich Rosa Luxemburg vor allem in der Frage, welche Rolle die Avantgarde, also die Partei, spielen sollte.
Für Rosa Luxemburg entstand Sozialismus aus der Gesellschaft und aus den Kämpfen der arbeitenden Massen heraus und nicht auf den Parteitagen der Avantgarde. Im Mittelpunkt der Handlungen der Partei stand für sie ein Zuwachs an Selbstbewusstsein der Massen sowie an deren Fähigkeit zu politischem Handeln. Die Partei sollte der Klasse Vorschläge machen, der Klasse aber, den Betroffenen also, die Entscheidung überlassen – selbst auf die Gefahr einer Ablehnung hin, die es in jedem Fall zu akzeptieren galt. Denn nach Rosa Luxemburgs Auffassung konnte nicht die Partei den Sozialismus erkämpfen, sondern nur die gesamte Klasse – wobei ihr das sozial-rassistische Klassenverständnis fremd war, das später die Stalinisten zur Ausschaltung aller selbständig Denkenden praktizierten, vornehmlich der Intellektuellen.
Für Rosa Luxemburg existierte die Klasse nur als Bewegung – oder gar nicht. Wer an der Bewegung der Klasse teilnahm, gehörte dazu – egal wo seine Wiege gestanden hatte und er sein Brot verdiente. 1922, in seiner Einleitung zur „Russischen Revolution“, erklärte Paul Levi, warum für Rosa Luxemburg die Freiheit des Andersdenkenden so wichtig war und sie von dieser Freiheit niemand ausschließen wollte. Paul Levi, seit 1913 einer ihrer Rechtsanwälte, 1914 mit ihr einige Monate in einer (heftigen) Liebesbeziehung verbunden, wurde nach Rosa Ermordung und nach der Ermordung ihres ersten Mannes, Leo Jogiches (im März 1919 in einem Berliner Untersuchungsgefängnis), zum Vorsitzenden der am 1. Januar 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. 1921 wurde er aus der KPD ausgeschlossen.
Gegen Lenins und Trotzkis Terrorpraxis schrieb er in seinem Vorwort zur von ihm erstmals veröffentlichten „Russischen Revolution“: „Sie wusste den Kampf als Kampf, den Krieg als Krieg, den Bürgerkrieg als Bürgerkrieg zu führen. Aber sie konnte sich den Bürgerkrieg nur vorstellen als freies Spiel der Kräfte, in dem selbst die Bourgeoisie nicht durch Polizeimaßnahmen in die Kellerlöcher verbannt wird, weil nur im offenen Kampf der Massen diese wachsen, sie die Größe und Schwere ihres Kampfes erkennen konnten.
Sie wollte die Vernichtung der Bourgeoisie durch öden Terrorismus, durch das eintönige Geschäft des Henkens ebenso wenig, als der Jäger das Raubzeug in seinem Walde vernichten will. Im Kampf mit diesem soll das Wild stärker und größer werden. Für sie war die Vernichtung der Bourgeoisie, die auch sie wollte, das Ergebnis der sozialen Umschichtung, die die Revolution bedeutet.“
Mit diesem Revolutionsverständnis war Rosa Luxemburg für die Kommunistische Internationale unerträglich – und wäre sie 1919 nicht von den Gegnern aus dem feindlichen Lager ermordet worden, hätte es spätestens 1936 Stalins Mörderbande getan. Viele, die heute in Deutschland Rosa Luxemburg ehren, würden sich mit Grauen von ihr abwenden, würden sie begreifen, was diese Frau wirklich wollte.
Foto:
Rosa Luxemberg
©mdr.de
Info:
Karl Dietz Verlag Berlin (Herausgeber Rosa Luxemburgs Schriften)