In Minsk und anderen belarusischen Stadten demonstriert die OppositionHat das Regime in Belarus den Bogen überspannt?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Opposition in Belarus nennt den Diktator Aljaksandr Lukaschenka „die Kakerlake“.

Dessen Entscheidung, ein Passagierflugzeug vom Kurs abzudrängen und zur Landung zu zwingen, um den Regimegegner Roman Protasewitsch festnehmen zu können, war eine Kriegserklärung. Eine, die sowohl an die zivile Luftfahrt als auch an sämtliche demokratische Staaten gerichtet war. Die Antwort der Europäischen Union ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin waren einige ihrer Bürger von diesem Piratenakt betroffen. Neben den bereits bestehenden Wirtschaftssanktionen gegen das Regime dürfen westliche Airlines ab sofort weder Belarus ansteuern noch das Land überfliegen. Da sich die ehemalige Sowjetrepublik auf Gedeih und Verderb wirtschaftlich an Russland gebunden hat, blieben diese Druckmittel bislang erfolglos. Die Unterbindung des Luftverkehrs könnte hingegen wirkungsvoller sein. Allerdings versperrt diese Maßnahme Oppositionellen den letzten Fluchtweg.

Die Menschen in Belarus bezeichnen diese Restriktionen mehrheitlich als richtigen Schritt – soweit sie sich äußern können bzw. wollen. Andererseits stellen sich viele auch die Frage nach der Sicherheit all jener Menschen, die in Belarus nach wie vor zum Widerstand aufrufen und ihre Freiheit riskieren. Verbleiben ihnen noch Möglichkeiten, das Land zu verlassen? Ohnehin sind die Grenzen seit dem Jahresende 2020 nominell geschlossen. Als Begründung wurde damals die Corona-Pandemie genannt. Der Flughafen in Minsk war die letzte, wenn auch formal illegale, Möglichkeit, Belarus zu verlassen. Dieser Ausweg ist nunmehr endgültig versperrt.

Die bereits erlassenen wirtschaftlichen Sanktionen richten sich bewusst gegen die politische Elite. Diese verfügt jedoch noch über ausreichend Möglichkeiten, ihr Vermögen ins dafür infrage kommende Ausland zu transferieren. Und damit ist nicht nur Russland gemeint. Würde der Westen aber den Mittelbau des Systems sanktionieren, könnte Unruhe entstehen. Beträfe es beispielsweise die Mitglieder der Wahlkommission, immerhin Zehntausende, vielleicht Hunderttausende nur eingeschränkt Privilegierte mit überwiegend schmalen Bankguthaben, wäre ein wahrnehmbares Ausmaß an gesellschaftlichen Reaktionen zu erwarten. Ob diese Irritationen und Verärgerungen aber ausreichten, um die Basis der Opposition zu vergrößern, darf bezweifelt werden. Es ist deswegen davon auszugehen, dass die EU mit der Sperrung des belarusischen Luftraums vorrangig ihre eigenen Bürger schützen wollte. Der Journalist Roman Protasewitsch genoss faktisch die Rechte eines EU-Bürgers, denn er arbeitete längst nicht mehr in Belarus. Ihm drohen in der Haft vermutlich Misshandlung, insbesondere lebensbedrohende Folter und möglicherweise sogar in einem Schauprozess die Todesstrafe. Das Video, das am Tag nach seiner Festnahme öffentlich wurde, zeigt einen Menschen, der unter Gewaltanwendung und Drohungen etwas äußert, das er sonst nie sagen würde. Sanktionen der üblichen Art dürften ihm deswegen nicht helfen. Ebenso wenig die Forderung nach seiner sofortigen Freilassung. Es gibt derzeit mehr als 400 politische Gefangene in Belarus. Auch deren Freilassung wurde von westlichen Regierungen regelmäßig gefordert – und diese Forderungen blieben erfolglos.

Eine Spur von berechtigter Hoffnung könnte dieses Kalkül bieten: Belarus kassiert für die Überflugsrechte Gebühren. Die werden jetzt fehlen. Ebenso muss die staatliche Fluggesellschaft Belavia mit Verlusten rechnen. Denn sie darf auf EU-Flughäfen weder landen noch starten.

Doch ist das ein geeignetes Mittel, um Aljaksandr Lukaschenka zu entmachten? Der Diktator, der sich gern mit einer Kalaschnikow in der Öffentlichkeit zeigt und sich dadurch als Gewalttäter offenbart, hat der EU durch das Kapern des Flugzeugs den Krieg erklärt. Die Gemeinschaft sollte nicht mit gleicher Münze zurückzahlen, denn sonst würde man dem Unterdrücker in dieser Auseinandersetzung die Wahl der Mittel überlassen. Die bisherige Politik gegenüber Belarus, die bislang im Wesentlichen aus diplomatischen Schachzügen und beschränkten wirtschaftlichen Sanktionen besteht, dürfte nicht in Gewalt umschlagen. Vielmehr müsste sie auf überkommene todbringende Waffen verzichten, die letztlich jenen schaden würden, deren Leben man zu schützen hätte.

Der Terror eines autoritären Regimes wie dem in Belarus ist auf lückenlose digitale Kommunikation angewiesen. Fällt die Elektronik aus, weil sie beispielsweise von außen manipuliert wird, verlören Panzer, Geschütze und Bomber ihre Aufträge. Sie wären zwar noch zu schießen in der Lage, doch auf wen und wann? Auf welchen Wegen sollte die Obrigkeit noch ihre Befehle erteilen, wenn die traditionellen Übermittlungskanäle gestört sind? Lukaschenka würde nie seinen Truppen vorangehen, schon gar nicht sein Leben riskieren. Er delegiert das Töten und Morden und bestimmt die Opfer.

Vor allem Russland und China haben vorgemacht, wie man durch eine Kette von entsprechend programmierten Robotern die Meinungsbildungsprozesse in demokratischen Gesellschaften in den elektronischen Medien beeinflussen kann. Die EU verfügt mit ihren Geheimdiensten und deren digitalen Equipments über eine Technologie, welche die Kommunikation in autoritären Regimen entscheidend stören könnte. Wenn die „Kakerlake“ einen Schießbefehlt erteilte, der aber nirgendwo gehört und ausgeführt würde, bräche das System wie ein Kartenhaus zusammen. Die Entführung des Flugzeugs verleiht der EU das Recht zum Handeln. Sie sollte handeln und sie dürfte ausschließlich human handeln.

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In Minsk und anderen belarusischen Städten demonstriert die Opposition
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