Gendern - das reaktionäre Lifestyle-Accessoire
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Herbeigeschriebene Lifestyle-Trends manipulieren das Bewusstsein und verdrängen die Komplexität des Realen.
So geschehen im Wochenendmagazin „FR 7“ der „Frankfurter Rundschau“ am 10./11. Juli. Ein 21-jähriger junger Mann, Finn, hatte sich ratsuchend an die Kolumnistin gewandt. Er ärgert sich über seine Eltern, die seine Sprache nicht ernst nähmen. Als Beispiele nennt er „nichtbinäre Kommiliton:innen“, „LGBTQI-Rechte“ oder „trans Frauen“ und ganz allgemein eine geschlechtergerechte Sprache. Dabei scheint er sich die Naivität eines pubertierenden Knaben bewahrt zu haben. Sowohl in seinen Wahrnehmungen als auch in seinen Artikulationsmöglichkeiten. Vielleicht ist er aber lediglich eine Kunstfigur, an der die FR-Redaktion tatsächliche oder vermutete Probleme Heranwachsender exemplarisch aufzeigen will.
Ist bereits die Fragestellung von sich gegenseitig ausschließenden Hypothesen und unzutreffenden Tatsachenbehauptungen geprägt, erwecken auch die Antworten der Kolumnistin den Eindruck, als sollten die logischen Ebenen bewusst verlassen werden. So wird die sexuelle Orientierung mit Vorurteilen gegenüber anderen Ethnien vermengt. Beide werden außerdem mit den Regeln der deutschen Sprache korreliert, was zu Zirkelschlüssen führt, die Aussagen unmöglich machen.
Bedenklich ist, wenn die Eltern dieses (fiktiven?) jungen Mannes trotz ihrer vom Sohn behaupteten guten Bildung nicht in der Lage sind, aufklärend zu wirken. Stattdessen nerven sie ihren Sohn angeblich mit den „Alt-68ern“. Da Finns Alter mit 21 angegeben wird, könnten seine Eltern um die 30 gewesen sein, als er auf die Welt kam. Der sogenannten 68er-Generation, die damals so alt war wie Finn heute, haben sie also nicht angehört. Dieser inadäquate Rückgriff könnte trotzdem hilfreich sein. Nämlich bei der Beantwortung der Frage, was junge Menschen zu dieser Zeit umgetrieben hat.
Ich mache das exemplarisch an mir und meinem Umfeld fest. Im Sommer 1968 war ich 21 Jahre alt, engagierte mich neben Ausbildung und Studium in einer Kriegsdienstverweigerer-Initiative in meiner Heimatstadt Dortmund, ebenso im dortigen „Republikanischen Club“ und zusätzlich in der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung (Ostermarschbewegung). Und besuchte regelmäßig die Lesungen der Schriftstellervereinigung „Dortmunder Gruppe 61“ (Max von der Grün, Josef Reding u.a.).
Die jungen Frauen und Männer um mich herum waren von ähnlichen multiplen, politisch motivierten Interessen geprägt. Heute frage ich mich, wie wir diese Vielfalt bewältigen konnten. Möglicherweise war es der revolutionär anmutende Geist einer neuen Zeit, der viele erfasste. Bis dahin eher langweilige Studentenvereinigungen wie der „Sozialistische deutsche Studentenbund“ (SDS), welcher der SPD nahestand, erhoben sich zum Protest gegen den „Mief aus 1.000 Jahren“. Der Widerstand gegen die Notstandsgesetze wurde nicht zuletzt von Gymnasiasten und Studenten getragen, ebenso der gegen Fahrpreiserhöhungen im ÖPNV (z.B. in Bremen). Es gab als Antwort auf den US-Krieg in Vietnam eine sehr aktive Friedensbewegung der Jugend, deren Galionsfiguren neben Martin Luther Kind auch der hessen-nassauische Kirchenpräsident Martin Niemöller war. Rudi Dutschke, der bekannteste Vertreter der protestierenden Studenten, der am 11. April 1968 von einem rechtsradikalen Attentäter lebensgefährlich verletzt worden war, prägte die Maxime „Aufrecht gehen“.
Das überlieferte Schlagwort „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ war einerseits eine bewusste Überzeichnung, andererseits entsprach es dem Streben der Frauen nach vollständiger Emanzipation. Diese Frauen definierten sich bewusst nicht über Männer, wollten auf keinen Fall als deren Anhängsel gelten. Eine Formulierung wie „Freund:innen“ (in diesem Wortlaut dem Artikel entnommen) wäre undenkbar gewesen, hätte sofort den Vorwurf des Faschismus heraufbeschworen. Ganz abgesehen davon, dass Substantive aus Gründen der grammatikalischen Genauigkeit nicht miteinander verschmolzen werden sollten. In dem Beispiel wird ein (männlicher?) Freund mit einer Mehrzahl von weiblichen Freundinnen mittels eines Doppelpunkts verbunden. Mutmaßlich waren aber „Freunde“ und „Freundinnen“ gemeint. Es hätte logischerweise Freunde:innen heißen müssen, was aber die ohnehin verkümmerte Sprachästhetik endgültig zerstört hätte.
Als abschreckende Beispiele für die Unterordnung der Frauen unter die Männer galten vor allem biblische Legenden und deren Instrumentalisierung. Allen voran die Schöpfungserzählung in Genesis 2, Verse 21 bis 23, entstanden um 900 vor der Zeitenwende, die zwischen 400 bis 500 v.d.Z. eine Endfassung erhalten hatte:
„Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen (Adam), und der schlief ein. Und Gott nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. [...] Da sprach der Mensch (Adam): Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.“
Fünf, möglicherweise sogar sechs Jahrhunderte später hielt Paulus im Ersten Brief an die Korinther (Kapitel 14, Verse 34 und 35) fest:
„Lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. [...] Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht der Frau übel an, in der Gemeinde zu reden.“
Die Frau als Rippe des Mannes, als Männin, als ewiges Anhängsel des Mannes. Das waren nicht nur antiquierte Vorstellungen aus uralten und undemokratischen Zeiten, das entsprach auch der von den Nazis angestrebten Deutungshoheit über die deutsche Sprache, war die „Lingua Tertii Imperii“ (Viktor Klemperer).
Wenn die FR-Redakteurin an Finn schreibt „Wie wir übereinander sprechen, zeigt an, wie wir einander wertschätzen“, legitimiert sie eine Sprache, in welcher der weibliche Mensch sich immer am männlichen zu orientieren hat. Die „Freundinnen“ müssen sich stets an die „Freunde“ anlehnen, als Stütze (oder Fessel) dienen Asterisk, Gender-Gap oder Doppelpunkt. Dabei befürwortet die deutsche Sprache ausdrücklich die Konkretion, wenn die abstrakte Form (also das generische Maskulinum) zu allgemein ist.
Das spricht nicht gegen die Notwendigkeit, dass Sprache lebendig bleiben muss. Sie wird sich im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen, aber auch in der Auseinandersetzung mit den Bedingungen der natürlichen Umwelt, immer Neuem zuwenden und Überkommenes abstreifen müssen. Aber dieser Prozess muss die genuine Fortsetzung der geregelten und bewährten Sprachpraxis sein und dem geschulten Sprachverständnis der Bevölkerung entsprechen.
Sprache wird der Gleichbehandlung der Geschlechter dann gerecht, wenn sie nichts verschweigt und nichts beschönigt. Wenn das, was sich aussagen lässt, klar gesagt werden kann (Ludwig Wittgenstein). Gegenderte Sprache hingegen reduziert die im gesellschaftlichen Diskurs notwendige Komplexität, weil sie ihn auf die Sexualität beschränkt. In der Publizistik erleben wir aktuell, wie sie zu einem Niedergang des investigativen Journalismus führt (beispielsweise beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und bei der Frankfurter Rundschau).
Während eines vierzigjährigen Berufslebens in der Verlagsbranche habe ich nahezu 3.000 Manuskripte geprüft. Mehr als zwei Drittel davon habe ich abgelehnt. Doch auch der zunächst druckreif erscheinende Rest musste noch mehr oder weniger stark bearbeitet werden. Maßstäbe für die Druckfreigabe waren inhaltliche Relevanz und Plausibilität, Stil (einschließlich Rechtschreibung) und das Zusammenspiel von Inhalt und Form. Anders ausgedrückt: Wer nichts zu sagen hat, vermag das Unsagbare (gelegentlich das Unsägliche) auch nicht schriftlich zu fixieren. Flüchtigkeits- und Tippfehler habe ich immer klaglos korrigiert, Fehler in der Denk- und Sprachlogik hingegen führten in der Regel zur Ablehnung.
Die Rechtschreibreform von 1996, die 2007 abgeschlossen war und für Schulen, Behörden und Rechtspflege verbindlich ist, empfinde ich als einen großen Fortschritt in der Sprachentwicklung. Das unterscheidet mich in manchen Punkten vom Redaktionsstatut der FAZ, vor allem aber vom Sprachverständnis der AfD. Deswegen ist deren Kampf gegen das Gendern ein Etikettenschwindel. Schließlich fußt diese Gruppe auf völkischen Ressentiments. Hervorzuheben wäre in diesem Zusammenhang die sogenannten „Verdeutschung“ der Sprache, die von Jörg Lanz von Liebenfels („Ostara“-Hefte, 1905 - 1917) mitbegründet und von Joseph Goebbels ab 1933 entscheidend fortgeführt wurde (siehe die Kritik von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind, 1945 ff.). Verdeutschung und Gendern sind zwei Seiten einer Medaille, weil sie die von mir beklagte Deklassierung der Frau endgültig sanktionieren wollten bzw. wollen.
Immer noch gilt mein Interesse der Literatur, deswegen engagiere ich mich in Literatur- und Kulturinitiativen. Deren Mitglieder, Förderer und Interessierte reagieren einhellig bestürzt auf das Gendern, das sie als Herabsetzung der Frau werten und das sie als Bestandteil einer gelenkten und um sich greifenden Verdummung missbilligen. Von diesen Frauen will keine eine „*in“ sein. Aber auch Vorbehalte gegenüber Menschen mit anderer sexueller Orientierung sind dort völlig unbekannt. Das Miteinander verschiedener Ethnien gilt als normal. Die Distanz gegenüber nichtgenuinen Lifestyle-Trends zeigt sich auch im Verzicht auf „soziale“ Medien (Facebook, Instagram, WhatsApp); sie sind als „Wirtshaus zu den niederen Instinkten“ verschrien. Demgegenüber genießen das Internet und die Kommunikation per E-Mail und SMS eine sehr hohe Akzeptanz.
Im Übrigen war die erwähnte Rechtschreibreform kein einseitiger Akt, sondern das Ergebnis einer internationalen Übereinkunft. Beteiligt waren Sprachwissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und aus Lichtenstein sowie der autonomen italienischen Region Bozen-Südtirol. Auch die deutschsprachigen Minderheiten in Belgien und Luxemburg waren auf Expertenebene vertreten. Ein paritätisch besetzter „Rat für deutsche Rechtschreibung“ verfolgt seither die Sprachentwicklung und schlägt gegebenenfalls Änderungen vor. Eine Weiterentwicklung kann nur aus der jeweils korrekt gesprochenen und geschriebenen Sprache hervorgehen; sie bedarf der Akzeptanz durch die jeweilige Bevölkerung und müsste ein international abgestimmtes Vorgehen sein. Deswegen hat der Rat im März dieses Jahres sämtliche Vorschläge zur versuchsweisen Einführung des Genderns erneut verworfen.
Gendern ist vor allem in Deutschland ein Thema geworden, sehr zur Verwunderung der anderen erwähnten Länder, insbesondere bei dortigen Wissenschaftlern, Autoren und Künstlern. Die radikalfeministische Front, die das Gendern propagiert, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, an den revanchistischen Kampfruf „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ anzuknüpfen. Darüber hinaus verschließt sich diese Bewegung auch anderen Realitäten. Im Türkischen und Arabischen gibt es keinen geschlechtsbezogenen Nominativ. Das hat aber leider nicht die Gleichberechtigung der Frauen in diesen Ländern auf den Weg gebracht. Vielmehr sind sie dort in besonderer Weise Entrechtung, Willkür und Gewalt ausgesetzt.
Für die FR, und nicht nur für sie, bestünde also Anlass, sowohl dem verunsicherten Finn als auch anderen die Gesamtheit der Tatsachen zu vermitteln. Und sie nicht weiter im Zustand der Unkenntnis zu belassen.
Grafik:
Gender*in – Der Mensch ohne Eigenschaften
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