So sehen Verlierer ausDie LINKE macht sich selbst überflüssig, WAHL 4

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die LINKE hat bei der Bundestagswahl 2021 fast die Hälfte ihrer Wähler verloren, gemessen an der Wahl von 2017.

Da es ihr aber gelang, drei Direktmandate zu erringen, scheitert sie nicht an der 5-Prozent-Hürde. Laut dem vorläufigen Endergebnis wird sie mit 39 Abgeordneten in den neuen Bundestag einziehen, was ihrem Stimmenanteil von 4,9 Prozent entspricht. Dennoch ist dieses Ergebnis ein selbstverschuldetes Desaster. Denn für diese Niederlage ist niemand anders verantwortlich als die Eindimensionalität einer Parteiführung, welche „die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen“ begreift (das Zitat ist MARX/ENGELS, Manifest der Kommunistischen Partei, entnommen).

Die LINKEN-Co-Vorsitzende Janine Wissler zeigte sich zwar tief enttäuscht. So bezeichnete sie das Ergebnis für ihre Partei als „ganz, ganz bitter“, beklagte „unglaublich schmerzliche Verluste". Und ergänzte gegenüber dem hr: „Wir müssen uns überlegen, wie wir wieder mehr Menschen erreichen". Doch die Bereitschaft zur Selbstkritik hielt sich trotz der Katastrophe in Grenzen. Denn ihre nächsten Sätze offenbarten die tiefe Hilflosigkeit einer Partei, welche die Bezüge zur Realität offensichtlich verloren hat. „Was mich umtreibt ist, dass wir bei so vielen Fragen eigentlich Positionen haben, die mehrheitsfähig sind. Ob das der höhere Mindestlohn ist, mehr Geld für die Pflege oder bezahlbare Mieten. Trotzdem führt das nicht dazu, dass uns viele Menschen wählen."

Doch Botschaften an die Wähler müssen diese auch erreichen. Die LINKE hat aber zu ausschlaggebenden Teilen ihrer potentiellen Wählerschaft gar keinen Kontakt. Denn sie kommuniziert über die Unterschichtenmedien Facebook und Instagram. Diese werden bekanntlich von AfD & Konsorten dominiert. Dort führen populistische Vereinfacher das Wort, propagieren Entsolidarisierung, Ständestaat, Nationalismus und Rassismus. Auf diese Weise versuchen Rechtsextremisten, die Deutungshoheit über den politischen Diskurs in der Bundesrepublik zu erringen. Es ist kein Wunder, dass sich in dieser Nachbarschaft kein demokratisch gesinnter Bürger wohlfühlt. Nachdenkliche und Intellektuelle, auf die progressive und sozialistische Parteien existenziell angewiesen sind, suchen dort weder nach Informationen, noch nutzen sie diese Ideologien zur eigenen Meinungsbildung. In einigen Landesverbänden der LINKEN wurde darüber dem Vernehmen nach auch kontrovers diskutiert, aber offensichtlich ohne Konsequenzen.

Es hat den Anschein, dass die 600.000 bisherigen Wähler der Linken, die zur SPD wechselten, symptomatisch sind für jene Bevölkerungskreise, die von ihrer einst favorisierten Partei enttäuscht wurden und sich für ein vermeintlich kleineres Übel, also Olaf Scholz und die SPD, entschieden haben.

Wann immer die LINKE in der Berichterstattung während des Wahlkampfs Gelegenheit hatte, ihre Sicht auf tatsächliche oder vermeintliche gesellschaftliche Widersprüche öffentlich zu artikulieren, beklagte sie vorrangig Hartz IV, die Leiharbeit oder die prekäre Situation alleinerziehender Frauen. Das sind zweifellos nicht hinnehmbare Missstände. Doch diese Kritik überragte nahezu alles andere, was ebenfalls unerträglich und folgenschwer ist. Die erstgenannten Punkte wurden Bestandteile eines Mantras, das aus falsch verstandenen Realitäten zusammengesetzt ist, und weisen zu wenig Bezüge zur Welt der Tatsachen auf.

Die Partei gerierte sich dadurch zur Beschützerin von Benachteiligten, ohne mit ähnlicher Intensität den notwendigen Kampf gegen das Elend als solchem und dessen Ursachen aufzunehmen. Sie reduzierte die Komplexität einer Gesellschaft auf allzu schlichte Erklärungsmuster und erwies sich als wenig sensibel für die Existenzängste von Menschen aus mittleren Einkommensschichten, die hinsichtlich Bildung und Beruf vieles richtig gemacht hatten, aber im Zuge des um sich greifenden Neoliberalismus um ihren Platz in der Gesellschaft fürchten müssen. Ganz zu schweigen von bezahlbaren Wohnungen, Gesundheitsfürsorge und Rentenerwartung.

Ähnlich dilettierte sie bei den Schutzmaßnahmen vor Covid-19. Mindestens indirekt vertrat sie die Sache der Impfgegner, als sie vor einer Spaltung der Gesellschaft warnte. Einer Spaltung zwischen einer verantwortungsbewussten Mehrheit aus Impfwilligen sowie vollständig Geimpften und einer ungebildeten und aggressiven Minderheit aus Querdenkern und Verschwörungsideologen. Letztere haben - wie erwartet - für das Original dieser Volksverdummung votiert, nämlich für die faschistoide AfD. Das war ganz besonders auffällig in Sachsen und Thüringen, einst Hochburgen der LINKEN.

Ohne Not hat sich die LINKE in Themen verkämpft, die keine aktuelle Relevanz besitzen. Etwa mit der Forderung nach einer Auflösung der NATO. Dieses prinzipiell wünschenswerte Ziel wird bereits durch den Dualismus zwischen USA und EU vorangetrieben, hierbei bedarf es der Linken nicht. Ähnlich unprofessionell war die Enthaltung bei der Abstimmung über die Evakuierung aus Afghanistan. Sie lieferte der Konkurrenz ein schwerwiegendes Gegenargument, nämlich den Verdacht, dass die LINKE politisch unberechenbar und unfähig sei.

Immer wieder, auch noch kurz nach dem Vorliegen des Wahlergebnisses, rechtfertigte sich die LINKE mit angeblichen Testimonials aus der Parteibasis. Meine persönlichen Beobachtungen lassen jedoch befürchten, dass die Funktionäre mit sich selbst im Gespräch waren, weil sich kein Zuhörer mehr an die Infostände heranwagte. Die wiedergegebene Stimmung ist mutmaßlich die selbstverfasste Einschätzung von Mandatsträgern; sie bewegt sich also fernab von jeder Realität.

Eigentlich hätte die politische und wirtschaftliche Gesamtkonstellation der LINKEN die überzeugendsten Argumente liefern können. Denn die Klimakrise erweist sich bei genauer Analyse als die schwerwiegendste Krise des Kapitalismus. Sie stellt eine Profitwirtschaft in Frage, die auf der Ausbeutung von Natur und Mensch beruht. Und sie wird, fall die natürlichen Grenzen des Wachstums nicht sofort zur Leitlinie der Politik werden, das Leben und die Entwicklungsmöglichkeiten von Milliarden Menschen bedrohen und womöglich irreversibel zerstören. Jeder Teilnehmer der „Fridays for Future“-Märsche, dem klar ist, warum er demonstriert, wäre der Verbündete für eine sowohl ökologisch als auch sozialistisch handelnde LINKE. Hätten Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow und Dietmar Bartsch glaubhaft und offensiv argumentiert, hätten sie die Wendehälse der Grünen, die von schwarz-grünen und gelb-grünen Koalitionen träumen, auf ewig ins Abseits stellen können. Und ich bin mir sehr sicher, dass die LINKE dann bei der Bildung einer neuen Bundesregierung eine Rolle gespielt hätte. Zumindest die intellektuell Ansprechbaren in der Bevölkerung, also alle jenseits von Facebook & Co., wären der Partei auf diesem Weg gefolgt. Sogar SPD-Mitglieder.

So aber steht die LINKE vor den Scherben, die ihr mangelndes politisches Fingerspitzengefühl, ihre unzureichende inhaltliche Kompetenz und ihr ständiges Zaudern verursacht haben. Janine Wissler plädiert zwar dafür, dass die Partei das Ergebnis analysieren müsse. Personelle Veränderungen lehnte sie jedoch ab, zumal sie als Parteivorsitzende erst seit einem halben Jahr im Amt sei. „Die personelle Neuaufstellung haben wir ja gemacht. Ich glaube eher, dass wir sie zu spät gemacht haben." Vielleicht nicht zu spät, aber vor dem Hintergrund von längst sichtbar gewordenen eklatanten Fehleinschätzungen der Vorgänger sicherlich mit falschen inhaltlichen Schwerpunkten behaftet.

Auch Wisslers politische Heimat, die Frankfurter LINKE, scheut sich offensichtlich vor einer ehrlichen Selbsterkenntnis. Die Fraktionsvorsitzende in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, Dominike Pauli, verweist darauf, dass der Bundestagswahlkampf „extrem auf Personen zugespitzt gewesen“ sei. „Da war es schwierig für eine Partei, mit dem Programm zu punkten.“ Als professioneller politischer Beobachter habe ich das anders wahrgenommen. Zwischen Laschet, Baerbock und Scholz gab es jede Menge Raum für politische Inhalte, zumal Schwarz, Grün und Rot so inhaltsleer wie selten zuvor auftraten. Klimaexperten hatten bereits zu Beginn des Wahlkampfs darauf hingewiesen, dass sämtliche Parteien nichts Konkretes zur Abwendung einer Klimakatastrophe in ihren Programmen stehen hätten. Da wäre für die LINKE als Außenseiter etwas möglich gewesen. Doch wer zu spät kommt oder gar nicht anreist, den bestraft bekanntlich das Leben.

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So sehen Verlierer aus: Janine Wissler, Dietmar Bartsch, Susanne Hennig-Wellsow
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