Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Das jüdische Odessa, das jüdische Kiew könnten in diesen Tagen ein weiteres Mal untergehen. Wieder ein jüdisches Zentrum Europas vor dem Ende? Jüdinnen und Juden, die mit anderen Menschen in die Flucht geschlagen werden und ihre Heimat verlieren könnten. Rund 2000 Kilometer entfernt davon ist an diesem Mittwochabend die Stimmung bedrückt ausgelassen. An den Tischen wird viel über den Krieg in der Ukraine gesprochen, über Hilfe für Flüchtlinge und die kommenden Wochen.
Eine Dixieland-Band schwärmt in den Raum, spielt den jiddischen Klassiker «Bei mir bist du scheen» und eine Frau sagt: «Das ist die Freiheit, gegen die Putin nie ankommen wird.» Da kommt alles zusammen. Die totale Freiheit und vielleicht bald der totale Krieg. Doch welcher Krieg? Gegen oder für was? Es ist kein ethnischer, es ist ein politischer. Doch macht es das weniger schlimm? Krieg ist Krieg. Der Krieg gegen die Ukraine ist keiner gegen Juden sondern alle Ukrainer – doch die Zahl der Jüdinnen und Juden, die in Emigration und Flucht geschlagen werden, könnte in die Hunderttausende gehen als Teil von Millionen Flüchtlingen, die vor Putins Faschismus flüchten. Das Menschenleid ist ohnehin schon vor der täglich drohenden Bodenoffensive in Ukrainiens Städte immens. In diesem Spannungsfeld seht auch das bevorstehende Purimfest. Mit einem Male ist Krieg nicht mehr Vergangenheit, sondern Gegenwart – nicht retrospektiv, sondern gleichzeitig.
Die Ohnmacht der Zeugen, das Dilemma der Zuschauenden, das Ringen um die richtige Art der Solidarität und das richtige Leben abgeschottet vom Kriegsgeschehen, während gleichzeitig in Europa unschuldige Zivilisten dem Tod ausgesetzt sind. Purim mag für viele das Fest der Freude sein, doch letztlich ist es jenes der Freiheit. Genau vor 80 Jahren war es dies auch im Warschauer Ghetto. Die Juden begingen die Feiertage, obwohl ihre Angehörigen vor ihren Augen verhungerten, wie Dokumente in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zeigen. So ist dort ein Zettel eines Mischloah-Manot-Korbes enthalten aus dem Jahre 1942. Der Zettel zeugt von der unvorstellbaren Realität des Lebens im Ghetto.
Der Umschlag trägt den Stempel der Firma, die das jüdische Viertel in Warschau versorgt, und einen Davidstern, darunter steht auf Hebräisch Purim 1942. Der Umschlag enthält auch die Anweisung, das Gewicht des kleinen Pakets mit 100 Gramm Ingwerkeksen zu überprüfen, was darauf hindeutet, dass die tägliche Kalorienzahl, die die Nazis jedem Juden im Ghetto erlaubten, nicht überschritten werden sollte. Es ist eine Art des Widerstands gegen die Faschisten. In der Purimgeschichte war es Haman, im Warschauer Ghetto Hitler, heute Putin. Purim 2022 steht für Widerstand und wird weltweit in jüdischen Familien und Gemeinden unter anderen Vorzeichen begangen werden – im Angesicht des drohenden Massenmords an Zivilisten in der Ukraine und einem Russland auf dem Weg zum totalitären Regime.
Fürs Protokoll: Auch 14 Tage nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine bleibt der Präsident des European Jewish Congress Mosche Kantor untergetaucht. Telefonate und E-Mails werden weiterhin nicht beantwortet (vgl. tachles 09/2022). Ein beispielloser Skandal – es ist Krieg, Hunderttausende Juden bedroht, deren Präsident unauffindbar. Doch keine der Mitgliedsgemeindschaften begehrt auf, fordert Klarheit oder endlich den Rücktritt des putinschen Oligarchen, dessen Korrumpierung offenbar weit über ihn hinaus wirkt. Irgendwann müssen sich Jüdinnen und Juden aus der Geiselhaft der Geldautokratie lösen, wenn sie denn wirklich endlich Emanzipation erlangen wollen. Die «Autoemanzipation» von Leon Pinsker aus dem 19. Jahrhundert mit dem «Mahnruf an seine Stammesgenossen» ,sich von antisemitischen Obrigkeiten zu befreien, bekommt rund 150 Jahre später eine neue Bedeutung. Also sucht Mosche Kantor nicht, sondern entlasst ihn.
Foto:
©evangelisch wuppertal.de
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. März 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Der Umschlag trägt den Stempel der Firma, die das jüdische Viertel in Warschau versorgt, und einen Davidstern, darunter steht auf Hebräisch Purim 1942. Der Umschlag enthält auch die Anweisung, das Gewicht des kleinen Pakets mit 100 Gramm Ingwerkeksen zu überprüfen, was darauf hindeutet, dass die tägliche Kalorienzahl, die die Nazis jedem Juden im Ghetto erlaubten, nicht überschritten werden sollte. Es ist eine Art des Widerstands gegen die Faschisten. In der Purimgeschichte war es Haman, im Warschauer Ghetto Hitler, heute Putin. Purim 2022 steht für Widerstand und wird weltweit in jüdischen Familien und Gemeinden unter anderen Vorzeichen begangen werden – im Angesicht des drohenden Massenmords an Zivilisten in der Ukraine und einem Russland auf dem Weg zum totalitären Regime.
Fürs Protokoll: Auch 14 Tage nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine bleibt der Präsident des European Jewish Congress Mosche Kantor untergetaucht. Telefonate und E-Mails werden weiterhin nicht beantwortet (vgl. tachles 09/2022). Ein beispielloser Skandal – es ist Krieg, Hunderttausende Juden bedroht, deren Präsident unauffindbar. Doch keine der Mitgliedsgemeindschaften begehrt auf, fordert Klarheit oder endlich den Rücktritt des putinschen Oligarchen, dessen Korrumpierung offenbar weit über ihn hinaus wirkt. Irgendwann müssen sich Jüdinnen und Juden aus der Geiselhaft der Geldautokratie lösen, wenn sie denn wirklich endlich Emanzipation erlangen wollen. Die «Autoemanzipation» von Leon Pinsker aus dem 19. Jahrhundert mit dem «Mahnruf an seine Stammesgenossen» ,sich von antisemitischen Obrigkeiten zu befreien, bekommt rund 150 Jahre später eine neue Bedeutung. Also sucht Mosche Kantor nicht, sondern entlasst ihn.
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©evangelisch wuppertal.de
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. März 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.