Bildschirmfoto 2023 01 28 um 01.31.02IM GESPRÄCH mit Marta Havryshko aus der Ukraine


Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Die öffentlichen Vergewaltigungen traumatisieren die betroffene Frau plus alle Anwesenden, was tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlässt.
Marta Havryshko ist aus der Ukraine geflüchtet und arbeitet in Basel als Gender- und Holocaust-Forscherin – ein Gespräch anlässlich des internationalen Holocaust-Tags zu sexualisierten Kriegsverbrechen einst und heute.

tachles: Vor einem Jahr sind Sie aus der Ukraine geflüchtet. Der Krieg wird weltweit weitgehend über Medienberichterstattung wahrgenommen. Sie haben Familie und Freunde vor Ort. Wie ist die Realität?

Marta Havryshko: Sehr schwierig. Sogar wer in Sicherheit in anderen Ländern ist, kann sich von dem, was in der Ukraine geschieht, nicht distanzieren. Familie, Freunde, Kollegen sind ja noch im Land und ständig der Gefahr ausgesetzt, durch russische Raketen getötet zu werden. Man kann also auch hier keine Minute ein normales Leben führen, ohne an diese schrecklichen Kriegsverbrechen und das Leiden der Menschen denken zu müssen.


Es gibt Kriege und schmutzige Kriege – der Krieg gegen die Ukraine stellte sich rasch als einen mit massiven Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung dar.

Ja, absolut. Wir nennen es einen hybriden Krieg, weil er auch auf der Informationsebene geschieht, wo Desinformation und Lügen verbreitet werden. Sogar der Holocaust und die Nazis werden vom Kreml missbraucht, um die Aggression zu rechtfertigen. Es wird auch behauptet, dass die Sexualverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durch die Rote Armee, sondern durch die Alliierten begangen wurden, obwohl diese etwa in Berlin zu den best dokumentierten Verbrechen der Geschichte gehören. Und die Sexualverbrechen in der Ukraine durch die Russen werden geleugnet.


2013 erschien Timothy Snyders Buch «Bloodlands» und schockte eine breitere Leserschaft über die historische Gemeinschaft hinaus. Können Sie es mit der heutigen Situation in Zusammenhang bringen?

Die Ukraine war und ist noch heute ein blutiges Land; es geschahen dort in der Vergangenheit nebst dem Holocaust durch die Nazis, ihre Verbündeten und lokalen Helfer andere Genozide. Etwa jenes der Sowjets gegen das ukrainische Volk unter dem Stalin-Regime 1932/33, als der Hunger als Waffe eingesetzt wurde. Vier Millionen Ukrainer verhungerten. Die Ukraine hatte schon immer eine schmerzvolle Geschichte, und sie hatte bisher nur 30 Jahre, um sich an der Demokratie zu versuchen und wirtschaftlich Fortschritte zu machen. Das wird nun durch Russland zerstört.


Zu Beginn des Krieges konnte Wladimir Putin die Russen mit den Nazi-Aussagen zur Ukraine für sich gewinnen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Das stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als die ukrainische Nationalbewegung und die aufständische Armee mit den Nazis kollaborierten, weil sie glaubten, dass diese der Ukraine die Unabhängigkeit gewähren würden. Als die Nazis im Sommer 1941 dies aber ablehnten, wandten sich die Waffen vieler dieser Nationalisten gegen die Deutschen. Wir müssen aber auch beachten, dass der Zweite Weltkrieg für die Ukraine nicht 1945 zu Ende ging. Für die folgenden zehn Jahre gab es heftige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den ukrainischen Sowjets und den Nationalisten. Letztere wollten nach wie vor die Unabhängigkeit wiederherstellen und sich von der Sowjetunion trennen. Das war ein sehr blutiger Krieg: Über eine halbe Million Menschen wurden von den Sowjets unterdrückt, mehr als 150 000 getötet und unzählige ganze Familien in die Gulags geschickt. Damals erhielten die Ukrainer den Stempel «Nazis und Faschisten» aufgedrückt. Für Russen war jeder, der die Ukraine als eigenständigen Staat sah, etwa die Dissidenten während der Sowjetzeit, ein Nazi oder Faschist. Es ist also jetzt einfach ein Wiederaufflammen dieser Idee aus Propagandagründen, und es geht auch darum, dass ausschliesslich die Russen den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Putin hat in seinen vielen sogenannt historischen Ansprachen daraus gemacht, dass die Russen den Kampf gegen die ukrainischen Nazis gewinnen können. Das russische Volk hat diesen Diskurs über den grossen Sieg über die Nazis so aufgenommen.


Aber während des Maidan-Aufstands und der Invasion der Krim schien es mehr um politische Gründe zu gehen. Was ist in diesen acht Jahren geschehen?

Schon gegen Ende des Maidan-Aufstands redete die russische Propaganda von Nationalisten und Faschisten. Die Idee des Aufstands war ja, sich von Russland zu distanzieren, und ein russisches Imperium kann es aus russischer Sicht ohne die Ukraine nicht geben. Putin bezeichnete ja den Zerfall der Sowjetunion als grösste geopolitische Tragödie, und das Interesse ist, das Territorium wiederherzustellen. Die Ukraine ist das Herzstück davon und muss dafür als eine Art Kolonie des russischen Imperiums erhalten bleiben.

In Europa gilt die Rote Armee als «Befreier» vor den Nazis. Faktisch, historisch stimmt das – war allerdings vielleicht kausal anders verortet. Sind wir da jahrzehntelang einem Irrtum aufgesessen?

Einen Irrtum gibt es auch bei uns sogar unter Akademikern, wenn sie «Sowjets» und «Russen» durcheinanderbringen. Damit befördern sie die Propaganda Putins über den Sieg über die Nazis als Verdienst der Russen. Aber fünf bis sieben Millionen Ukrainer haben in der Roten Armee gekämpft, und mindestens acht Millionen Menschen wurden auf dem heutigen Territorium der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs getötet, darunter 1,5 Millionen Juden.


Betrachten Sie die Rote Armee dennoch als Befreier?

Im ukrainischen Kontext ist das eine sehr komplizierte Sache. Einerseits befreiten sie tatsächlich ukrainisches Gebiet und Europa von den Nazis. Aber sie installierten dafür ein anderes autoritäres Regime in der Ukraine, und viele Rotarmisten kämpften gegen die ukrainische Untergrundbewegung der Nationalisten. Es ist für uns also nicht eine reine Befreiung gewesen, weil es nicht mit der Auferstehung eines unabhängigen ukrainischen Staates zu tun hatte. Es war der Ersatz der einen Unterdrückung durch eine andere. Deshalb ist speziell heute die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Rote Armee in der Ukraine eine sehr kontroverse.


Sie beschäftigen sich als Wissenschaftlerin mit sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder als Kriegsverbrechen. Was können Sie uns dazu sagen?

Ich schreibe derzeit ein Buch über sexuelle Gewalt während des Holocaust in von den Nazis besetzten Gebieten der Ukraine und an unterschiedlichen Orten wie Ghettos, Camps, Verstecken, Strassen, jüdischen Wohnungen, usw. Ich betrachte dabei die Folgen dieser Gewalt.


Was fällt alles unter den Begriff sexuelle Gewalt?

Während des Holocaust gab es viele Formen. Es geht nicht nur um Vergewaltigung, sondern auch um erzwungene Nacktheit oder Berührungen der Geschlechtsteile jüdischer Frauen, etwa durch Polizisten. Oder auch um erzwungene Sterilisation oder Abtreibung, wie es sie in Auschwitz gab. Es gab dafür unterschiedliche Motivationen. Während des Holocaust war es etwa die opportunistische Gewalt, ausgeführt durch Nazis oder ihre lokalen Helfer aus persönlichen Gründen. Oft wurden die Opfer zwecks Verschleierung der Tat getötet und beraubt. Dann gab es aber auch Fälle von Massenvergewaltigungen, die als genozidal betrachtet werden, beispielsweise während Pogromen in der Ukraine im Sommer 1941, oft durch Ansässige in der Zeit des Machtvakuums zwischen dem Rückzug der Rotarmisten und dem Einmarsch der Deutschen an jüdischen Familien verübt. Dies geschah häufig öffentlich, denn es ging um die Demütigung der ganzen Gemeinschaft.


Was passierte bei Schwangerschaften nach Vergewaltigungen mit den Kindern?

Etliche Frauen versuchten, diese Folge einer Vergewaltigung durch Abtreibung loszuwerden. Es war sehr demütigend für sie, und viele versuchten auch, die Vergewaltigung geheim zu halten. Andere überliessen die Babys lokalen Leuten, und wieder andere versuchten, die Neugeborenen zu töten – dies auch, weil es sehr gefährlich war, mit einem Kind im Versteck zu leben.


Kann man erzwungene Schwangerschaften auch als ethnische Kriegsführung betrachten, um Jüdinnen deutsche Kinder gebären zu lassen?

Solche Schwangerschaften waren nicht sehr häufig, sondern eher ein Nebenprodukt der Vergewaltigung. In den Genoziden in Ruanda und Jugoslawien wurden erzwungene Schwangerschaften hingegen als Waffe eingesetzt, die Frauen wurden in Lagern solange vergewaltigt, bis sie schwanger wurden. Aber die erzwungene Sterilisierung von Frauen in Camps durch die Nazis wurde als Waffe benützt.


Die Rotarmisten vergewaltigten ebenfalls.

Ja, wobei sie im Gegensatz zu den Nazis ihre Opfer meist nicht töteten. Aber allein in Berlin starben laut dem Historiker Antony Beevor 10 000 Frauen infolge einer Vergewaltigung, meistens durch Suizid.


Damals gab es noch keine Definition von Kriegsverbrechen wie heute. Und doch geschieht immer noch sexuelle Gewalt sogar gegen Kinder.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war niemand daran interessiert, die Nazis und ihre Verbündeten wegen sexueller Gewaltausübung zu verfolgen, denn alle beteiligten Armeen taten es, und es war ihren Führungen bekannt. In Nürnberg gab es wohl Zeugenaussagen zu sexueller Gewalt, aber niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen – es war zu problematisch. Heute wird das aber anders gehandhabt, auch in Bezug etwa auf Ruanda oder die Ukraine. Solche Verbrechen werden untersucht, man weiss, wie man dafür Beweise sammeln kann, um später Gerechtigkeit zu schaffen.


Was wissen wir heute über solche Verbrechen seit Februar 2022 und eventuell schon seit 2014? Einzelfälle oder eine Strategie?

Die ersten Erkenntnisse zu sexueller Gewalt durch russische Soldaten stammen aus der Zeit nach der Besetzung der Krim und des Donbas. Die Ukraine hat dazu Material gesammelt, etwa bei jenen, die in Gefangenschaft waren. Es geht dabei um sexuelle Folter, Vergewaltigung oder deren Androhung, erzwungene Nacktheit usw. Allerdings kam das alles damals nicht so häufig vor wie nach dem 24. Februar 2022. Zum einen war das russisch eroberte Territorium nicht so gross, und zum anderen gab es ab Februar 2022 eine ganz andere Stufe von Aggression. Seit dann haben wir einen klaren, beabsichtigten genozidalen Krieg, und die sexuelle Gewalt wurde zur Strategie und zur Kriegswaffe. Klar, weil in allen von den Russen besetzten Gebieten unzählige belegte Fälle sind und sexuelle Gewalt gegen alle Kategorien von Opfern ausgeübt wurde – Frauen und Mädchen unterschiedlichsten Alters, aber auch Männer und Knaben, vor allem in russischer Gefangenschaft oder häufig vor den Augen der Angehörigen der Opfer. Das ist klar ein Signal, das Terror und Angst verbreitet, womit aber auch der Widerstand gebrochen werden soll. Sexuelle Gewalt ist ein sehr billiges, aber sehr wirksames Mittel im Krieg.


Ist das eine Entscheidung Putins, hat er das veranlasst?

Es ist Teil des Systems, denn wir wissen von vielen Fällen, dass die Befehlshaber ihre Soldaten nicht daran gehindert oder sie dafür bestraft haben. Sie sind sich der Verbrechen ihrer Untergebenen also sehr wohl bewusst.


Gibt es auch belegte Fälle sexueller Gewaltausübung durch ukrainische Soldaten gegen Russen?

Es gab einige wenige Fälle 2014 und 2015. Das Bataillon Tornado beispielsweise verübte sexuelle Gewaltverbrechen gegen Bewohnerinnen des Donbas. Diese Fälle sind mittlerweile unter Kontrolle der Uno und von Human Rights Watch. Heute versuchen die ukrainischen Kommandanten, ihre Soldaten von solchen Taten abzuhalten. Aber es gibt auch keine Motivation dafür, solche Verbrechen als Strafe oder Terror einzusetzen, denn wo immer die ukrainische Armee zuvor von den Russen besetzte Gebiete befreit, sind die Leute dort grösstenteils proukrainisch eingestellt.


Verfügen wir nach elf Monaten Krieg eigentlich über Opferzahlen auf beiden Seiten?

Diese Zahlen sind sehr schwierig zu ermitteln. Die Uno bestätigte, Irrtum vorbehalten, 11 000 getötete Zivilisten in der Ukraine, darunter mehr als 450 Kinder, aber ich denke, dass diese Zahl sehr viel höher ist. In Mariupol beispielsweise schätzen die lokalen Behörden die Todesopfer auf 25 000 oder mehr, denn die Russen liessen ihre Raketen auf Wohnhäuser aufschlagen, die dann in sich zusammenstürzten. Niemand half den Verschütteten. Ferner gibt es noch immer sehr viele ukrainische Gebiete, die russisch besetzt sind, und wir wissen, dass nach jeder Befreiung Massengräber zum Vorschein kommen.


Kann man von einem Genozid sprechen?

Wenn die Genozid-Definition von Raphael Lemkin zutrifft, haben wir alle Kriterien für einen solchen erfüllt: so etwa die Absicht. So wird etwa in russischen Staatsmedien offen darüber diskutiert, wie viele Millionen Ukrainer getötet werden müssten. Sie machen aus ihren Plänen kein Geheimnis. Dann die Vernichtung ukrainischer Identität und Kultur, manifestiert etwa durch die Zerstörung von Museen, Gedenkstätten usw. Oder die Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur, um die Zivilgesellschaft leiden zu lassen und unmenschliche Bedingungen zu schaffen. Oder die Entführung ukrainischer Kinder, die in russische Waisenheime oder Familien gebracht werden, um sie als Russen zu erziehen. Und diese Aufzählung ist nicht abschließend.


Nochmals zurück zur sexuellen Gewalt gegen Jüdinnen während des Holocaust. Wie kommt es, dass in der breiten Öffentlichkeit nur wenig dazu bekannt ist?

Ein Grund ist wohl, dass sexuelle Kontakte mit Jüdinnen nach den deutschen Rassengesetzen verboten waren. Also wollte niemand darüber sprechen. Ein zweiter Grund ist sicher auch, dass nach dem Holocaust die Frauen nicht darüber sprechen wollten, aus Scham, wegen des gesellschaftlichen Drucks, und speziell nicht, wenn sie aus patriarchalen, religiösen Gemeinschaften stammten. Sie mussten fürchten, aus der Gemeinschaft ausgestossen zu werden oder dass sich ihre Männer von ihnen scheiden lassen würden. Solche Fälle sind dokumentiert, aber sogar Holocaust-Forscher halten sich zurück, darüber zu sprechen.


Im Gegensatz zu den Nazis, die ihre Verbrechen selbst genau dokumentierten, verschleiern die Russen alles. Wie verschafft man sich also Beweise?

Heute ist es relativ einfach, Beweise zu sammeln. Wir haben abhörbare Telefongespräche. In den besetzten Gebieten versuchen die Leute, Videos zu machen. Im Fall von Butscha behaupteten die Russen ja, dass die Verbrechen durch die ukrainische Armee verübt worden seien. Aber es gibt so viele Videos, die das Gegenteil beweisen. Und es sind dort so viele Untersuchungen durch internationale Gremien und Recherchen durch internationale Journalisten gemacht worden, die beweisen, dass die Russen die Verbrecher waren. Die Täter für einzelne Fälle sexueller Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen wird allerdings schwieriger sein, weil es häufig nur die Aussagen der Opfer gibt, die oft traumatisiert sind und dadurch Widersprüchliches erzählen. Zudem vermummen sich Vergewaltiger oft.


Also eine Herausforderung für die Strafverfolgung.

Ja. Aber mittlerweile haben wir ca. 70 000 ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz, und viele von ihnen haben Kriegsverbrechen zum Beispiel in Mariupol miterlebt. Sie könnten Zeugenaussagen machen, und ich würde befürworten, dass die Schweizer Staatsanwaltschaft solche Aussagen sammelt. Diese könnten dann mit anderen Ländern geteilt werden und in eine Datenbank einfliessen. Das wäre eine grosse Unterstützung für die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und für die Ukraine als solche. Denn die Ukrainer wünschen sich zutiefst, Gerechtigkeit zu erhalten. Und Gerechtigkeit ist sehr wichtig für die Humanität. Ohne Gerechtigkeit kann die Humanität nicht bestehen.

Foto:
©tachles

Info: 
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 27. Januar 2023