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Draußen wurde demonstriert, drinnen debattiert

Jacques Ungar

Jerusalem (Weltexpresso) - Israels Regierungschef Binyamin Netanyahu hielt am Montagabend zur TV-Prime-Zeit die lang erwartete Rede vor dem Hintergrund der um sich greifenden Massendemonstrationen und des alle und alles schädigenden Generalstreiks, den der Gewerkschaftsbund am Sonntagmorgen verkündete. Da zu dieser Zeit der Inhalt von Netanyahus Rede bereits weitgehend bekannt war, muss das Vorgehen wenige Tage vor dem Pessachfest und weiterer nationaler Gedenk- und anderer Feiertage bis hin zum 75. Unabhängigkeitstages des Landes eigentlich als überflüssig und unnötig bezeichnet werden.


Über die Gründe für die Verzögerungen von Bibis Ansprache sind die Meinungen geteilt. Am klarsten war wohl nicht nur Netanyahus Wunsch, sich ein möglichst großes Publikum zu sichern, sondern auch seine Absicht, durch das stundenlange Hinauszögern der Rede die Unsicherheit und Ungeduld unter den Massen noch um ein Stücken mehr zu erhöhen. Höchst wahrscheinlich dürfte Netanyahus Appell an die Emotionen seiner Bürgerinnen und Bürger, die Einheit über das Trennende zu stellen und das Land vor den immer deutlicheren Gefahren der Trennung und des Konfliktes zu schützen.

Netanyahu ließ auch keine Zweifel daran offen, dass an der stärkenden Rolle der Armee zugunsten des ganzen Volkes nichts zu rütteln gebe. Dass Itamar Ben-Gvir, sein Minister für innere Sicherheit, seine Drohung des Verlassens der Koalition durch die Bildung einer, von Ben-Gvir zu leitenden Zivilen Privattruppe vergelten ließ, gehört wahrscheinlich zur israelischen Usanz der an sich völlig überflüssgen Einrichtung für «wacklige» Koalitionsmitglieder. So lange das Volk aber der IDF durch dick und dünn die Stange hält, dürfte Ben-Gvirs Privatmiliz über kurz oder lang bald in die Vergessenheit des politischen Luxus abgesunken sein. Netanyahu ließ seine Bürgerinnen und Bürger nicht lange zappeln, sondern gab ihnen schon nach wenigen Minuten seiner Rede das erhoffte «Pessachgeschenk»: Die zweite und dritte Lesung des militärischen Reformgesetzes soll um einige Monate bis in die Sommersession der Knesset verschoben werden. Die dadurch gewonnene Zeit will Netanyahu auf Debatten mit allen Teilen des Volkes verwenden, in der Hoffnung, letzten Endes doch noch zu einem einer Mehrheit der Israeli akzeptablen Kompromisslösung die Hand zu bieten.

Längst nicht alle Bürgerinnen und Bürger, die seit Wochen tage- und nächtelang das Volk in den Demonstrationen weder wachen noch schlafen ließen, werden aufs Erste zufrieden sein mit der Verschiebung der Reform um ein paar Monate. Letzten Endes werden aber auch sie einsehen müssen, dass die Reform an sich nötig gewesen ist, nur über die Art und Weise ihrer Durchführung ließ sich viel diskutieren. Zuguter Letzt dürften wahrscheinlich jene Experten Recht bekommen, dass das israelische Volk insgesamt gestärkt und weiser aus dem Geschehen hervorgehen wird, das ohne weiteres auch zu einer Katastrophe hätte werden können. Das Wichtigste dürfte jetzt aber wohl sein, so kurz vor den Feier- und Ferientage den negativen Generalstreik der Vergangenheit angehören zu lassen.

Foto:
Menschen demonstrieren vor der Knesset am Montag
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 27. März 2023