Bildschirmfoto 2023 08 25 um 02.37.48Arabisch-israelische Journalistin nimmt den Staat in Verantwortung für die Vernachlässigung der arabischen Bevölkerung

Redaktion tachles

Tel Aviv (Weltexpresso) - Jeder konnte es wissen und sehen. Seit Anfang des Jahres wurden in der arabisch-israelischen Community 156 Menschen ermordet. Der Staat, die Polizei – sie kümmerten sich wenig oder waren aus Personalmangel, wie es hiess, nicht in der Lage, sich zu kümmern. Noch nie wurden so viele arabische Israelis in kürzester Zeit umgebracht. Immer wieder erklärte die Regierung, sie wolle dem Einhalt gebieten, Premier Netanyahu bildete dafür ein Komitee, dem er selber vorsitzt, nachdem schon vor einiger Zeit mehrere Morde kurz hintereinander stattfanden.

Wirklich geschehen ist noch nichts. Am Montag wurde in Tira ein Stadtratsdirektor ermordet, am Dienstag dann in Abu Snan, einem Städtchen im Galil, vier Menschen. Nun herrscht in Israel Hektik. Zumindest an der Oberfläche. Netanyahu hat den Inlandsgeheimdienst Shin Bet beauftragt, die Morde aufzuklären, nachdem Polizeichef Kobi Shabtai, ohne irgendwelche Belege zu haben, sofort erklärte, es handele sich um Bandenkriege. Und Itamar ben Gvir, der Nationale Sicherheitsminister, fordert erneut, dass die Polizei Menschen willkürlich verhaften darf und erklärt, dass diese «Banden» mit viel Geld ausgestattet seien und sich bald gegen den Staat wenden würden.

Sheren Falah Saab ist Journalistin bei der Tageszeitung Haaretz. Einer der Ermordeten in Abu Snan, wo sie selbst lebt, war ein Verwandter von ihr. In ihrem Artikel «Hear the Cry of Every Arab in Israel, Living in the Shadow of Death» schreit sie ihren Schmerz und ihre Wut hinaus in die jüdisch-israelische Welt. Nicht ganz zu Unrecht fragt sie, was geschehen wäre, wenn es ein solches Massaker in einer jüdischen Stadt gegeben hätte? Ganz Israel wäre aufgestanden. In die Staatsorgane setzt sie keinerlei Vertrauen. Die Polizei sieht sie als unfähig und unwillig zur Aufklärung an. Aber sie macht das ganze System verantwortlich für die Kriminalität, den Umgang des Staates mit den arabischen Staatsbürgern: Jahrelange Vernachlässigung dieses Sektors der Gesellschaft, schlechte Ausbildungsmöglichkeiten, wenig Chancen auf Jobs, mangelnde Infrastruktur und die Unmöglichkeit, sich in die israelische Gesellschaft integrieren zu können – Saabs Anklage ist nicht ganz falsch. Die Vorgängerregierung unter Premier Naftali Bennett hatte genau aus diesen Gründen einen 5-Jahres-Plan mit Millionen Dollar aufgelegt, um die Situation der arabischen Bevölkerung zu verbessern.

Die neue Regierung unter Netanyahu hat dieses Programm gestrichen. Die Morde werden weitergehen. Die Frage ist, ob der Staat begreift, dass er sich auch diese Bürger kümmern muss, allein schon aus Eigeninteresse.

Foto:
Die Beerdigung von Salman Halabi, einem von vier diese Woche ermordeten Männern.
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. August 2023