ntvGershom Gorenberg spricht Klartext in der «New York Times»

Andreas Mink

Tel Aviv (Weltexpresso) - Als israelischer Journalist und Autor durch Bücher nicht zuletzt über die Siedlerbewegung («The Accidental Empire») hervor getreten, übt Gershom Goremberg in einem aktuellen Beitrag für die «New York Times» harsche Kritik an Benjamin Netanyahu. Die Überschrift «Netanyahu hat uns in die Katastrophe geführt. Er muss gehen» gibt die Richtung vor.

Gorenberg wirft dem Premier und dessen Regierung Hybris, Selbstgefälligkeit und vor allem Wahnvorstellungen vor. Netanyahu habe anhin keine Verantwortung für die mangelhafte Vorbereitung auf den Hamas-Terror vom vorletzten Samstag übernommen. Und doch sei er in den letzten 13 von 14 Jahren Premier gewesen. Vor neun Monaten seien nur die extremsten Parteien bereit zu einer Koalition mit dem wegen Korruption angeklagten Politiker gewesen: «Die Agenda der Regierung schien allein darin zu bestehen, Geld an ultraorthodoxe Schulen zu leiten, die Siedlung im Westjordanland zu unterstützen und vor allem radikale Änderungen am Justizsystem durchzusetzen, die Netanyahu und die Rechten schützen würden.»

Über Monate habe das Sicherheitskabinett nur sporadisch getagt und Netanyahu habe schriftliche Warnungen von Militärs über eine innere Zerrüttung der IDF aufgrund der Justiz-Reform ignoriert. Allerdings habe seine Blindheit gegenüber der Gefahr aus Gaza eine längere Geschichte und rühre aus einer strategischen Entscheidung Netanjahus seit seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 2009. Zwei Jahre zuvor hatte die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen und damit die Palästinenser-Gebiete gespalten. Die Palästinensische Autonomiebehörde auf dem Westjordanland habe zwar weiter ein Zwei-Staaten-Abkommen mit Israel angestrebt. Aber Netanyahu habe die Spaltung begrüsst und die Trennung Gazas vom Westjordanland gefördert, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. 

So habe er 2019 erklärt, die Finanzierung des Hamas-Regimes durch Katar werde die Chancen auf einen palästinensischen Staat untergraben und damit die Kontrolle Israels über das Westjordanland vertiefen. 2015 hatte der heutige Minister Bezalel Smotrich erklärt, palästinensische Terroranschläge stellten keine Gefahr für Israel dar, dies drohe aber durch die Diplomatie von Mahmoud Abbas für eine Zwei-Staaten-Lösung. Für Israel sei «die Palästinensische Autonomiebehörde deshalb eine Belastung und die Hamas ein Gewinn.» 

Gorenberg argumentiert weiter, Netanyahu habe der Hamas trotz der regelmässiger Konfrontationen mit Israel den Ausbau ihre Herrschaft über Gaza gestattet, statt die Islamisten zu schwächen: «Hamas war der Feind und, in einer bizarren Wendung, ein Verbündeter gegen die Bedrohung durch Diplomatie, eine Zwei-Staaten-Lösung und Frieden.» Doch diese Politik Netanyahus habe auf Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung beruht. Die Netanyahu-Regierung habe sogar Streitkräfte aus der Gegend um Gaza in das Westjordanland verlegt, um Siedler zu schützen: «Deshalb waren die Grenzgemeinden zum Zeitpunkt des Angriffs weniger geschützt.» 

Der Publizist erwartet eine Untersuchungskommission zu dem Versagen israelischer Geheimdienste bei der Erkennung von Angriffs-Plänen der Hamas. Dabei dürfte als «erschreckendes Echo des Versagens des israelischen Geheimdienstes vor dem Jom Kippur-Krieg 1973herauskommen: Es gab Hinweise, aber diese wurden falsch verstanden oder ignoriert, weil sie nicht den verfehlten Denkmustern der Entscheidungsträger entsprachen.» Heute seien Netanyahu und seine Regierung «überzeugt gewesen, die Hamas könne sicher gemanagt werden, um die Besetzung des Westjordanlandes auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Hinzu kam die offensichtliche Vernachlässigung der Sicherheit durch die Regierung und das Ergebnis war eine Katastrophe.» 

Gorenberg hält dem Premier zudem vor, erst über eine Woche nach den Attacken ein Treffen mit den Familien der nach Gaza entführten Israelis arrangiert zu haben: « Netanyahu hat versagt und muss zusammen mit seiner Politik ersetzt werden – je schneller, desto besser.

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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 19. Oktober 2023