camondoDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Anfang November 

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Die drei Männer sitzen am Tisch und unterhalten sich über die Situation in Nahost, das Überschwappen des Krieges in Israel auf die Straßen weltweit, den Riß in den Gesellschaften. Sie sind vereint in ihrer Sorge und ihrer Lebenserfahrung. Alle drei waren staatenlose Juden, hatten den blauen, aber keinen richtigen Pass. Der eine ist mit Jahrgang 1928 mit einem Kindertransport im Zweiten Weltkrieg in die Schweiz gekommen, der andere mit Jahrgang 1937 flüchtete mit seinen Eltern illegal über die Schweizer Grenze, der dritte ist als Kind von Holocaust-Überlebenden 1956 geboren und mit den Ängsten eines Nachgeborenen aufgezogen worden.

Es ist ein strahlender Herbstsommertag beim Lunch unweit des Kunsthauses Zürich. Wäre es in einem anderen Land als der Schweiz möglich gewesen, dass die Sammlung eines Nazi-Kollaborateurs von der Stadt in ein öffentliches Museum gehievt wird, fragt einer am Tisch. Die Antwort ist glasklar. Die drei sind mit ihren Familien vor den Waffen Emil Georg Bührles geflüchtet, Familienmitglieder sind in Konzentrationslagern ermordet worden. Die Judenhetze auf Europas Straßen beginnt lange vor dem 7. Oktober. Sie beginnt zwischen den jeweiligen Krisen, bei Aufklärung, Vermittlung von Geschichte und der Etablierung eines Geschichtsbewusstseins. Dieses fehlt der Schweiz, wird allenfalls zur uninspirierten Alibiübung. Erinnerungskultur muss geradezu herbeigezwungen werden, Eingeständnisse von fatalen Fehlern gibt es nicht, notorische Sturheit ist schon legendär.

Aber es gibt eine ausgeklügelte Kultur des Selbstbetrugs und das Abgreifen der Juden als Feigenblätter. So auch wieder in diesen Tagen. Im Kunsthaus Zürich karrt die neue Direktorin Ann Demeester im Stundentakt jüdische Delegationen ins Kunsthaus und zeigt die veränderte Bührle-Ausstellung. Wie immer: Kosmetik ohne richtige Substanz, die auf das Wohlwollen ein paar naiver Juden baut, die sich nicht zweimal bitten lassen. Die Sammlung Bührle wird nun verändert präsentiert. Doch schon am Eingang zur Ausstellung wird mit zwei großen Porträtfotos von Sammler Bührle klar, wie die Hierarchien sind. Mit flankierenden Videostatements von Juden, die die Ausstellung vorab nie gesehen hatten, ist das Kunsthaus zum «Work in Progress» übergegangen und passt nun die Ausstellung laufend etwas an, bis die Kommission von Historiker Raphael Gross die endgültigen Resultate der Kommission vorlegen wird zur Frage, welche Gemälde Raub- oder Fluchtkunst sind. Natürlich wird die Ausstellung das Placet von jüdischen Organisationen erhalten. Man möchte dann doch das eigene Versagen nicht zu sehr zur Schau stellen. Der Sache allerdings hilft das wenig, nämlich der Aufklärung zu Verantwortung, Schuld und Restitution, der Forderung, dass diese Sammlung vornehmlich aus jüdischem Besitz stammender Kunst in den öffentlichen Besitz überzugehen hat.

Derweil sitzt die Familie Bührle in Zürich umgeben von weiteren Werken von Raub- und Fluchtkunst in den Privatgemächern, kommuniziert nicht und macht auch keine Anstalten zu Restitutionsbemühungen. Enteignung, Zwangsverkäufe, Fluchtgeschichten jüdischer Familien werden in der Ausstellung nicht ausformuliert. Man stelle sich vor, jemand würde heute die Enteignung der Familie Bührle fordern – was für ein Aufschrei würde durchs Establishment zischen? Zwei Tage später springt in der M. Lengfeld’schen Buchhandlung in Köln das Buch «Camondo» von Edmund de Waal ins Auge. Es ist die beeindruckende Familiengeschichte in Briefen, die hinter dem Bild «La petite Irène» am Anfang der Bührle-Ausstellung steht. Lektüre, die nochmals vor Augen führt, was hinter der Sammlung Bührle für ein Unmenschentum steht, das in der Gegenwart immer noch Alliierte findet. Die Kunst kann nichts dafür, solange sie Nazi-Familien gehört, bleibt sie belastet. Derweil dosiert das Kunsthaus Zürich mit PR, Beruhigungshäppchen für Juden und setzt den Masstab: 90 Prozent Bührle, 10 Prozent schwerfällige Erkenntnis. Eigentlich die logische Konsequenz in Sachen Vergangenheitsbewältigung der Schweiz.

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Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG 
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. November 2023