Pano PaulskircheFrankfurter Oberbürgermeister Josef spricht auf Gedenkveranstaltung zum 9. November in der Paulskirche

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Stadt Frankfurt am Main hat in der Paulskirche der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gedacht. Oberbürgermeister Mike Josef betonte in seiner Rede die Bedeutung der Gedenkveranstaltung für unser Leben im Hier und Jetzt. Unter dem Vorzeichen des Angriffs der Terrororganisation Hamas auf den Staat Israel am 7. Oktober 2023 und die damit verbundenen Auswirkungen auf das jüdische Leben in Deutschland forderte Josef dazu auf, gegen offenen und verdeckten Antisemitismus aktiv zu werden: „Wir alle zusammen tragen diese Verantwortung. Es ist die Aufgabe eines jeden, jüdisches Leben zu schützen, egal woran wir glauben, egal woher wir kommen. Haben wir die Empathie einander zu verstehen und den Mut füreinander einzustehen. Zeigen wir, dass wir ein anderes, ein besseres Deutschland geworden sind. Stellen wir uns dem, was war, lernen wir daraus.“

In Anwesenheit zahlreicher Gäste aus Stadtgesellschaft und Politik sowie Vertretenden der Jüdischen Gemeinde Frankfurts sprach Oberbürgermeister Josef, bevor Marc Grünbaum, Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, das Wort ergriff.

Eine Podiumsdiskussion mit jungen Menschen rundete die Veranstaltung ab. Moderiert wurde sie von der Stiftungsvorsitzenden der Margit-Horváth-Stiftung. Die Stiftung ist an die KZ-Erinnerungsstätte in Mörfelden-Walldorf angegliedert.

 
Rede Josef„Gemeinsam jüdisches Leben schützen“ – Rede des Oberbürgermeisters Mike Josef zum Gedenken an die Ereignisse des 9. Novembers in der Paulskirche

 
Verehrte Gäste,
eine angemessene Form des Erinnerns bezieht sich auf gestern und heute mit Blick auf die Zukunft. Sie bezieht die Position und Motivation des Erinnernden mit ein. Deshalb haben wir im Vorfeld der heutigen
Gedenkstunde Kontakt mit jungen Menschen aufgenommen und werden gleich mehr darüber erfahren, was das Novemberpogrom von 1938 heute für sie bedeutet. Traumata von Flucht, Vertreibung und Auslöschung werden über Generationen weitergegeben. Jede Generation muss Erinnern und Traumata bewältigen.

Ich bin ich sehr gespannt auf die Podiumsdiskussion mit Schülerinnen und Schülern. Und ich bin dankbar, dass diese mutigen jungen Menschen ihre Perspektiven in diesen schwierigen Zeiten mit uns teilen.
Danke, dass Ihr heute hier seid.

Meine Damen und Herren,
unlängst las ich einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In diesem Artikel von Prof. Michael Brenner berichtet die Ärztin Rahel Straus, was ihr angetan wurde. Sie erhielt einen anonymen Warnruf, sie und ihr Mann – der Rechtsanwalt Eli Straus – sollten sich verstecken, er würde sonst geholt werden. Und unter ihrer Tür wurde ein Zettel durchgeschoben auf dem stand: „Schicken Sie die Kinder nicht in die Schule, es ist gefährlich.“
 
Dies ist kein Bericht vom 9. November 1938 – es ist ein Bericht vom 9. November 1923. Dies geschah nicht in einer Diktatur, es geschah während ein sozialdemokratischer Reichspräsident im Amt war, im
Rahmen einer liberalen Verfassung, in der ersten deutschen Demokratie. Der NS-Staat ist nicht wie eine Katastrophe von außerhalb über uns Deutsche hereingebrochen, sondern er lässt sich in bestimmten
Traditionslinien deutscher Geschichte verorten. Und viele dieser Traditionslinien existieren noch immer.

Als ich diesen Artikel las, musste ich an einen Besuch in unserer jüdischen Gemeinde denken. Der Polizeipräsident und ich waren dort, um über die Sicherheitslage nach dem 7. Oktober zu sprechen. Eine Mutter berichtete von ihrer alltäglichen Angst. Sie müsse weinen, wenn sie ihre Tochter morgens in die Kita bringe, weil sie fürchte ihr könnte etwas passieren und sie weine vor Erleichterung, wenn sie sie am Ende des Tages wieder wohlbehalten in die Arme schließe. Ich musste daran denken, dass in diesem Jahr, vor wenigen Wochen, ein Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge verübt wurde. Ich dachte an den Anschlag auf eine Synagoge in Halle: Wie durch ein Wunder konnte der Mörder nicht eindringen. Diese gegenwärtigen Verbrechen zeigen, wie Recht mein Vorgänger Volker Hauff hatte. Er hat mir im Vorfeld unserer heutigen Veranstaltung seine Rede von 1990 gesendet. Lieber Volker Hauff, ich danke Dir dafür und vor allem dafür, dass Du dieesen Gedenktag in der Paulskirche eingeführt hast!


Ich möchte aus Deiner damaligen Rede zitieren: „[…] Erinnern ist keine Pflichtübung, sondern Existenzvoraussetzung für unser Land. Es geht dabei nicht um ein historisches Ereignis, […], nicht um intellektuelle Pflichtübungen […]. Es geht um uns. Hier und jetzt.“ Und weiter: „Es ist unser Land, es ist unsere Kultur gewesen, die zugelassen hat, was geschah. Auschwitz ist aus der Mitte des blühenden Deutschland gewachsen.“

Den 9. November 1938 sehen wir in der Rückschau als eine Zäsur, aber in Wahrheit steht er in der Kontinuität einer Entwicklung, die vor 1933 begann. Und an deren Ende Millionen von Menschen ermordet wurden. Der Weg in die Barbarei besteht aus vielen kleinen Schritten. Es darf +

Fotos:
©Salome Roessler, Stadt Frankfurt






























































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































darum kein Anbiedern, kein augenzwinkerndes Verstehen, keine
zweideutigen Signale in Fragen der zivilisatorischen Verfasstheit unseres
Gemeinwesens geben. Uns leiten und bewegen die Worte Primo Levis: „Es ist geschehen, und
folglich kann es wieder geschehen.“
Unsere heutige Veranstaltung steht auch unter dem Vorzeichen des
Massakers vom 7. Oktober. An diesem Tag hat die Terrororganisation
Hamas im Süden Israels mehr als 1.400 Menschen auf grausame Art und
Weise ermordet und mehr als 220 Babys, Kinder, Frauen und Männer in
den Gaza-Streifen als Geiseln verschleppt.
Mein Amtskollege, der Tel-Aviver Bürgermeister Ron Huldai hat mir
gesagt: Bitte vergesst nicht, was am 7. Oktober geschah. Und ich habe
ihm versprochen, das werden wir nicht.
Uns, die das von der Hamas angerichtete Massaker mit Abscheu erfüllt,
empfinden Mitgefühl mit den Bewohnern Gazas, die von der Hamas in
Geiselhaft gehalten werden.
Es müssen Wege gefunden werden, die Zivilbevölkerung und vor allem
die Flüchtlinge im Süden des Gaza-Streifens zu versorgen und zu
schützen. 

Die Morde der Hamas, das ist die Dialektik dieses Konflikts, sollen die
auf Verständigung ausgerichteten Menschen in Israel und in der
arabischen Welt zum Hass gegeneinander aufstacheln. Sie säen den
Hass auch auf unseren Straßen.
Erliegen wir nicht dieser perfiden Logik!
Wir lassen uns als Gesellschaft nicht spalten!
Die Wahrheit ist, die Terroristen wollen niemals Frieden, denn sie leben
vom Krieg. Aber die große Mehrheit der Menschen, sie wollen Frieden,
Freiheit und eine Lebensperspektive für ihre Kinder. So wie es alle Eltern
auf der ganzen Welt für ihre Kinder wollen.
Klar ist: Der Krieg im Nahen Osten ist und darf keine Rechtfertigung für
Antisemitismus in Frankfurt sein, weil es keine Rechtfertigung für
irgendeine Form von Antisemitismus gibt.
Um es an diesem Tag, von dieser Stelle deutlich zu sagen: Gewalt gegen
Menschen jüdischen Glaubens ist immer Gewalt gegen Jede und Jeden
von uns, gegen unsere ganze Stadt.
Jüdische Schulen müssen von Polizisten bewacht werden und jüdische
Gotteshäuser sind Ziel von Brandanschlägen. Wir werden keine TäterOpfer Umkehr erlauben. Wir stehen an der Seite der bedrohten Menschen
und schützen sie.

Unsere Ehrenbürgerin Trude Simonsohn hat es einmal auf den Punkt
gebracht: Wenn Unrecht geschieht, muss man sofort NEIN sagen. Das
erwarte ich von allen Frankfurterinnen und Frankfurtern, egal woher sie
kommen, egal woran sie glauben.
So dankbar ich unseren Sicherheitskräften dafür bin, dass sie unser
Frankfurt schützen, so klar ist auch: Es gibt keine Freiheit ohne
Verantwortung, ohne Verpflichtung, keine funktionierende Demokratie
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ohne eine übergroße Mehrheit der Demokratinnen und Demokraten.
Besonders hier in der Paulskirche, wo für die Meinungs- und
Religionsfreiheit gekämpft wurde, ist es wichtig zu betonen: Diese hart
erstrittenen Rechte dürfen nicht missbraucht werden, um die
Menschenwürde mit den Füssen zu treten.
Verantwortlich für unser Land, für unsere Stadt, das sind wir alle
gemeinsam. Wir sind uns dessen nicht immer bewusst, aber es bleibt
dennoch wahr, die Voraussetzung einer wehrhaften Demokratie kann
niemand schaffen außer wir selbst!

Wir entscheiden, ob wir einschreiten oder wegsehen, wenn ein Kind
wegen seines Glaubens auf dem Schulhof beleidigt wird. Wir entscheiden,
ob wir es zulassen, wenn ein Kind sich nicht mehr traut mit seinem Trikot
von seinem Fußballverein Makkabi in einer Frankfurter U-Bahn zu fahren.
Wir entscheiden, ob eine junge, jüdische Mutter morgens Angst haben
muss, weil sie ihr Kind in die Schule bringt.
Schieben wir keine Zettel unter der Türe mit einer Warnung hindurch,
sondern organisieren wir uns gegen den Hass und schützen gemeinsam
die Bedrohten.
Wir alle zusammen tragen diese Verantwortung. Es ist die Aufgabe eines
jeden, jüdisches Leben zu schützen. Egal woran wir glauben, egal woher
wir kommen. Es liegt an uns selbst, wer wir sind und was wir sein wollen:
Haben wir die Empathie einander zu verstehen und den Mut füreinander
einzustehen. Zeigen wir, dass wir ein anderes, ein besseres Deutschland
geworden sind. Stellen wir uns dem was war, lernen wir daraus.
Lassen wir unsere jüdische Gemeinde nicht allein und geben wir Freiheit,
Demokratie und Menschenwürde niemals wieder preis.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt freue ich mich auf die Rede meines lieben Freundes Marc
Grünbaum, Vorstand der jüdischen Gemeinde.





Fotos
Oberbürgermeister Mike Josef während seiner Ansprache in der Paulskirche, Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Salome Roessler

Marc Grünbaum, Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, während seiner Rede in der Paulskirche, Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Salome Roessler

Blick in die Paulskirche während der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht vom 9. auf den 10. November, Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Salome Roessler

Podiumsdiskussion mit dem Titel „Perspektiven junger Menschen“ in der Paulskirche, Copyright: Stadt Frankfurt am Main, Foto: Salome Roessler

Kontakt für die Medien
Caroline Nützel, Sprecherin des Oberbürgermeisters, Telefon 069/212-35458, E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!