Yves Kugelmann
Brüssel (Weltexpresso) - Der deutsche Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky spricht über die bevorstehenden Europawahlen, Debatten um Nahost und extremistische Entwicklungen in Demokratien.
tachles: Sie blicken mit Pandemie, Kriegen, vermehrtem Extremismus auf eine herausfordernde erste Legislatur zurück. Was hat sich für Sie im Europaparlament und in der Brüsseler Realität in den fünf Jahren geändert, seit Sie dort als Europaparlamentarier für die Grünen Einsitz haben?
Sergey Lagodinsky: Ja, es war eine sehr ungewöhnliche Legislatur – allein schon wegen Covid. Nach einem halben Jahr mussten wir in einem reduzierten und digitalen Modus arbeiten – und das dauerte ja an. Hinzu kamen der Brexit und die Fragen nach den Folgen der Pandemie und der Finanzierung der Wirtschaft. Das war schon sehr fordernd. Aber dann folgte der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, und wir hatten ganz schnell ganz andere Sorgen, auch etwa im Hinblick auf die Energieversorgung und die wirtschaftlichen Auswirkungen. Das alles konnte niemand vorhersehen.
Sie sind 1993 als Kontingentflüchtling von Russland nach Deutschland gekommen. Jetzt werden Sie als Politiker mit Russland und vielen schwierigen Fragen konfrontiert. Was macht das mit Ihnen?
Ich habe ja kein sentimentales Verhältnis zu meinem Herkunftsland, eigentlich nie gehabt. Ich habe mich immer eher als Juden betrachtet denn als Russen. Aber bei Beginn der Legislatur sagte ich, dass ich mich mit zwei Themen nie befassen wolle: Russland und Nahost. Aber nun beschäftige ich mich gezwungenermassen genau damit, die Wirklichkeit und die Geschichte haben mich eingeholt. Ich betrachte es aber eher als Vorteil, dass ich als deutscher Politiker viele aus der Opposition in Russland kenne, in oppositionellen Medien auftreten kann, als westlicher Politiker dort ein Renommee habe und schneller irgendwelchen Märchen auf die Schliche komme als andere, weil ich mich auskenne. Wir konnten auch dabei mitwirken, etlichen gefährdeten russischen Oppositionellen zur Einreise in die EU zu verhelfen.
Die Migrations- und Asylpolitikfragen triggern viele Debatten im Europaparlament und in europäischen Parlamenten. Was ist Realität, was Populismus?
Es ist nicht reiner Populismus im Parlament, sondern eine Suche nach einer gemeinsamen europäischen Lösung. Wir sind eben nicht mit allem einverstanden, und als Jurist sehe ich einiges mit Skepsis. Zum Beispiel, was rechtliche Verfahren an der Grenze betrifft, ob mit dieser Lösung die Rechte an gewissen betroffenen Orten eingehalten werden. Aber ich sehe nicht, dass in dieser Zusammensetzung des Parlaments ausschliesslich Populismus vorhanden ist, und ich gehöre auch nicht zu jenen, die diese Probleme kleinreden. Wir haben hier eine Herausforderung, und die Frage ist, wie wir diese lösen, ohne Grundrechte und das Recht auf Asyl auszuhöhlen. Da gehen die Meinungen auseinander, und offensichtlich kann eine gesamteuropäische Lösung nicht ohne Polen oder Ungarn stattfinden. So kommen halt Lösungen zustande, die meinen Werten und Überzeugungen nicht völlig entsprechen, und darüber streiten wir jeweils.
In Europa sind vermehrt autokratische Tendenzen auszumachen und somit Demokratieverluste.
Ja, das liegt in der Natur der europäischen Politik. Wir kämpfen wohl für unsere Werte und Vorstellungen, sind aber nur zehn Prozent des Parlaments und erleiden Niederlagen. Das ist bedauerlich, aber nicht zu vermeiden. Man kann sich die Wirklichkeit wünschen und dafür kämpfen, dass es besser wird, und dafür werden wir uns bei der Umsetzung der Asyl-Lösung auch einsetzen. Also etwa bei der Kontrolle, ob die Grund- und Menschenrechte eingehalten werden oder nicht, und wenn nicht, werden wir das transparent machen und zusehen, dass es sich ändert. Das ist die nächste Herausforderung.
Wobei diese auch darin bestehen mag, dass der vorausgesagte Rechtsrutsch im Europaparlament stattfinden könnte und Sie in einer noch kleineren Minderheit sein könnten.
Ja, durchaus. Aber hoffentlich wird das Pro-blem bei der anstehenden Wahl auch deutlich, indem man den Menschen klarmacht, dass es wirklich um etwas geht und dass die progressiv denkenden Leute verstehen, dass sie mit stärkeren und nicht mit schwächeren Grünen weiterkommen und diesem Rechtsruck etwas entgegensetzen können. Und nicht schauen, was etwa die Ampel in Berlin falsch macht, sondern was die Grünen im europäischen Parlament richtig machen. Das ist die Herausforderung, denn es wird vermutlich die Reservemehrheit, die uns geholfen hat, progressive Dinge an den Konservativen vorbeizubringen, nicht mehr geben, und eine neue rechte Reservemehrheit könnte dafür sorgen, dass die Entscheide konservativer ausfallen werden. Umso wichtiger ist, dass die Grünen respektive die Progressiven bestärkt werden.
Welche Rolle spielt die SPD, in der Sie ja früher Mitglied waren: Wäre da ein richtiger Zusammenschluss nicht sinnvoll?
Ja, natürlich, wir schliessen uns ja auch bei unserer Arbeit im europäischen Parlament oft zusammen. Aber auch die geschwächte deutsche SPD selbst ist ja nur ein kleiner Teil von dieser Fraktion, und wir haben auch dort nicht besonders progressive Kräfte, etwa die Nachfolger von kommunistischen und sozialistischen Parteien des Ostblocks mit problematischen Tendenzen. Die Grünen mussten da immer wieder Druck ausüben, sodass die Sozialdemokraten nicht anders konnten, als sich uns anzuschliessen. Das ist weiterhin wichtig.
Seit dem 7. Oktober ist auch Europa mit steigendem, artikuliertem Antisemitismus konfrontiert. Wie können Sie sich da als jüdischer Politiker in die europapolitische Arbeit sinnvoll einbringen?
Ich positioniere mich da nicht als jüdischer, sondern als deutscher Politiker. Und die deutsche Politik nimmt als Ausgangspunkt hier immer die Sorge um das Existenzrecht Israels. Das bedeutet nicht, dass das Land alles machen darf, aber sehr wohl, dass bei uns dieser Konflikt nicht auf stereotype Darstellungen Israels reduziert werden darf. Bei allen Kritikpunkten, die wir beispielsweise in der Nichteinhaltung des Völkerrechts sehen, ist das Land ja nicht auf den behaupteten Völkermord aus. Was die humanitäre Situation der Gaza-Bevölkerung betrifft, sind wir ja nicht blind, aber uns dessen bewusst, dass es Israel auf Selbstverteidigung ankommt und nicht auf genozidale Fantasien. Natürlich liegt ein Problem an der teils rechtsradikalen Beschaffenheit der israelischen Regierung, das macht es schwieriger. Als deutsche Abgeordnete sind wir indessen häufig international isoliert, wenn wir unsere Position, dass nicht alles schwarz und weiss ist, herüberzubringen versuchen.
Hat die diesbezügliche Einstellung allenfalls einen Einfluss auf die Wahlen?
Daran denke ich nicht, denn es gibt bestimmte Positionen, die einfach richtig und für uns als deutsche Gesellschaft auch moralisch existenziell sind – ungeachtet der Kritik, die etwa aus dem Ausland oder aus migrantischen Gemeinschaften kommt.
Wie sollte Europa sich punkto Nahost positionieren? An der Zweistaatenlösung festhalten? Und soll die UNRWA weiter finanziert werden?
Das Festhalten an der Zweistaatenlösung ist die notwendige Perspektive. Gerade jetzt, wo Israel auch durch den Iran bedroht ist, wäre es falsch, Waffenlieferungen einzustellen. Es geht ja nicht nur um Gaza. Israel ist ja auch von manchen Staaten umgeben, die seine Existenz nicht anerkennen. Wir können also nicht sechs Millionen Menschen in den Rücken fallen, nur weil ihr Premierminister Mist baut. Die UNRWA soll mittelfristig reformiert werden, aber zurzeit sehe ich keine Alternative, wie wir die Palästinenser humanitär versorgen könnten. Israel kriegt das ja mit all den Schiessereien nicht hin, und auch andere Organisationen nicht. Bleiben also nur die Strukturen, die wir haben, auch wenn sie strukturell grundsätzlich problematisch sind. Das alles müsste später auf den Tisch, aber nicht jetzt in dieser schwierigen humanitären Lage.
Sie haben einst den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und -demokraten gegründet. Wie wichtig ist es für Sie, dass Jüdinnen und Juden in die Politik gehen und sich auch in gewissen Fragen zusammentun?
Ich finde es absolut wichtig, was man ja gerade in solchen kritischen Situationen sieht. Eine Gemeinschaft soll sich doch immer unterstützen und auch zusammenschliessen. Aber jüdische Politiker haben zu verschiedenen Themen verschiedene Meinungen und unterschiedliche Perspektiven, was ja nicht weiter verwunderlich ist. Wobei jüdisch sein nicht bedeutet, dass wir Israel-Politik oder Antisemitismusbekämpfung machen, sondern dass wir aus einer Minderheitenperspektive he-raus eben ganzheitliche Politik für die ganze Gesellschaft, für ganz Europa machen.
Muslime und Islam in Europa sind ein stark debattiertes Thema. Wie blicken Sie auf die Debatten?
Ich sehe das nicht als das heisseste Thema. Der Islam muss eine Religion sein, die die Verfassung und die Grundrechte respektiert. Genau wie andere Religionen auch. Mir ist aber wichtig, dass wir Gemeinschaften nicht auf Religionen reduzieren. Wenn ich aus den Zuspitzungen der jüngsten Zeit etwas lerne, dann ist es, dass wir es übertrieben haben mit der Gleichsetzung von Gemeinschaften mit Religion, und dadurch zu Solidarisierungseffekten beigetragen haben, die politisch überhaupt keinen Sinn machen, etwa dass migrantische Communitys, die nichts ausser Religion mit Palästina zu tun haben, sich plötzlich über die Religionsschiene angegriffen fühlen.
Generell ist die Demokratie fragiler geworden, Parlamente versuchen bereits, Schutzmechanismen einzubauen. Was kann man auf dieser Ebene tun?
Ich habe schon bei meiner Kandidatur gesagt, dass wir einen Stresstest für unsere Demokratie brauchen. Wir müssen uns ernsthaft überlegen, welche Institutionen den Druck der Rechten, falls sie an die Macht kommen, überleben, und was wir jetzt schon tun können, um sie zu stärken. Wir brauchen eine institutionelle Widerstandskraft, und die ist nur durch eine präventive Veränderung zu erreichen. Das muss angegangen werden.
Sind Sie für die nächsten Jahre angesichts der potenziellen Problemstellungen denn besorgt?
Ich bin seit vielen Jahren besorgt, aber immer nur besorgte Politik zu machen, bringt auch nichts. Wir müssen nicht solche Emotionen, sondern politische Reformen oder Vorschläge an den Mann und die Frau bringen und unsere Sachen abarbeiten, Probleme identifizieren und lösen. Darum geht es, und nicht darum, uns besser zu fühlen, weil wir etwas von der Tribüne gerufen haben, das uns viele Klicks beschert.
Wie sehen die nächsten Tage für Ihren eigenen Wahlkampf aus?
Wie immer meine mir wichtigen Themen einbringen, also neben Aussen- und Digitalpolitik Demokratie und insbesondere Rechtsstaatlichkeit. Ich habe ja schon mehrmals die Kommission verklagt – wie kriegen wir es hin, Kommissionen zu aktivieren, zum Beispiel auch, dass Gelder gestrichen werden, wenn es Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit gibt. Eine Auflistung von zehn Beispielen, wo das europäische Parlament sich durchgesetzt und Relevanz gezeigt hat, beginnt mit meinen gerichtlichen Interventionen gegen die Kommission. In dieser Richtung werde ich weitermachen, und auch mit meinem schon seit Langem vertretenen Credo der Stärkung der Zivilgesellschaft. Das habe ich etwa mit der Durchsetzung meines Vereinsrechts auch schon durchgesetzt, was es möglich macht, europäische Vereine zu gründen, und unseren europäischen NGOs Schutz bietet.