Schuldspruch gegen frühere KZ-Sekretärin krönt das Versagen der Justiz bei der Ahndung der Naziverbrechen
Kurt Nrelhiebel
Btemen (Weltexpresso) – Die Verurteilung einer 99 Jahre alten Frau, die während der Nazizeit als Sekretärin in einem Konzentrationslager gearbeitet hat, ist verschiedentlich auf Unverständnis gestoßen; die Kritiker halten eine Sühne nach so langer Zeit für unangemessen.
Der vom Bundesgerichtshof bestätigte Spruch des Landgerichts Itzehoe, das die ehemalige Stenotypistin wegen ihrer Tätigkeit als Schreibkraft des Lagekommandanten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt hat, legte der Beschuldigten Beihilfe zum Mord in mehr als 10 000 Fällen zur Last. Insgesamt sind in dem KZ rund 65 000 Menschen gewaltsam zu Tode gekommen.
In einem Pressekommentar wird der Verurteilten vorgehalten, sie habe ihre Schuld verdrängt. Dazu möchte ich als 97 Jahre alter Zeitgenosse anmerken, dass sie zu anderem wohl kaum fähig gewesen sein dürfte, hat sie doch als damals 18Jährige nichts anderes gekannt, als das Unrechtsregime der Nationalsozialisten. Natürlich befreit sie das nicht von jeder Schuld; ausschlaggebend bei diesem vermutlich letzten Prozess zur Ahndung der Naziverbrechen ist etwas anderes, der Umgang mit der Vergangenheit.
Dass ein Mann wie Hans Globke ungeachtet seiner Mitarbeit an den Rassegesetzen der Nazis von Bundesskanzler Konrad Adenauer bis zum Erreichen der Altersgrenze als Staatssekretär im Amt gehalten und mit den höchsten Auszeichnungen bedacht wurde, versetzte der moralischen Aufarbeitung der Vergangenheit den Todesstoß. Ohne von den politisch Verantwortlichen daran gehindert zu werden, konnten die im Amt verbliebenen Nazirichter alle juristischen Vorkehrungen treffen, ihre Spießgesellen in der Robe vor der Strafverfolgung zu schützen. Kein einziger ehemaliger Richter am Volksgerichtshof wurde jemals rechtskräftig verurteilt.
Der Bundesgerichtshof hielt einem ehemaligen SS-Richter zugute, dass die strengen Gesetze der Nazis keine Ausnahme gewesen seien;; überall auf der Welt würden in Kriegszeiten scharfe Gesetze zum Schutz des Staates erlassen Der Beschuldigte wurde freigesprochen.
Der Aufbau der Bundeswehr wurde den ehemaligen Hitlergeneralen Speidel und Heusinger anvertraut. Als die Polizei 1952 bei einer verbotenen Demonstration gegen die Wiederbewaffnung mit scharfer Munition auf die Teilnehmer geschossen hat und ein junger Kommunist von einer Kugel in den Rücken tödlich getroffen wurde,
haben zwei namhafte Blätter, „Der Spiegel“ und die Wochenzeitung „Die Zeit“, darüber keine einzige Zeile veröffentlicht und niemand hat daran Anstoß genommen.
Wenige Wochen nach dem Beginn des ersten großen Auschwitz-Prozesses wurde ein namhafter Ruhr-Industrieller, der nach Kriegsende von einem Gericht der Alliierten wegen Beteiligung an Auschwitz-Verbrechen zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. Für die Beteiligten an der skandalösen Ehrung spielte die Vorstrafe keine Rolle. Erst als die älteste jüdische Zeit der Schweiz bei der Ordenskanzlei des damaligen Bundespräsidenten Lübke anrief und der Skandal publik zu werden drohte, musste der Geehrte den Orden zurückgeben. Den Anstoß hatte ein Artikel von mir gegeben.
Einer der Wenigen, denen die unbewältigte deutsche Vergangenheit auf der Seele lag, war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, den die Nazis aus politischen und rassischen Gründen ins Exil getrieben hatten. Vergeblich hat er versucht, die Sperr-Riegel aufzubrechen, mit denen eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit behindert wurde. Im Auschwitz-Prozess sollte nach seinem Willen mit dem Prinzip gebrochen werden, dass niemand ohne konkreten Tatnachweis belangt werden dürfe. Damit scheiterte er. Erst 2011, im Prozess gegen den ukrainischen Nazi-Hilfswilligen Demjanjuk, machte sich ein Gericht die Rechtsauffassung von Fritz Bauer zu eignen, dass auch jemand mitschuldig werden konnte, der indirekt dem Naziregime in die Hände gearbeitet hat, so wie das jetzt im Prozess gegen die Sekretärin aus drem KZ Stutthof geschehen ist. Dass das so spät geschah ist kein Sieg der Gerechtigkeit. Vielmehr wird den Hinterbliebenen der Ermordeten vor Augen geführt, dass es möglich gewesen wäre, die Schuldigen rechtzeitig zur Rechenschaft zu ziehen, wenn man es denn gewollt hätte.
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